Stadt der Masken strava1
Angelos gebräunte und schwielige Fischerhand und drückte sie liebevoll. Die beiden würden solche Schwierigkeiten bekommen, wenn sie ohne sie nach Torrone zurückkehrten!
Nach einer kurzen Unterbrechung wurde der dunkelblaue Himmel jetzt von Rodolfos kunstvollen Feuerwerksbildern erhellt. Als Erstes ein bronzefarbener Stier, der über den Himmel zog, dann eine blaugrüne Meereswelle, aus der eine glitzernde Schlange wurde. Dann flog ein geflügeltes Pferd über sie hinweg und schien in das Wasser des Kanals einzutauchen und dort zu verschwinden. Und danach stieg ein silberner Widder aus dem Meer empor und wurde über den Blicken der Zuschauer riesig groß, ehe er sich in tausend Sterne auflöste.
Angelo ließ die Hand seiner Schwester los, um zu applaudieren.
»Signor Rodolfo hat sich dieses Jahr mal wieder übertroffen, nicht wahr?«, sagte er zu Tommaso, der ebenfalls klatschte. »Was meinst du, Arianna?« Aber als er sich nach ihr umwandte, war sie verschwunden.
Arianna hatte sich ihren Plan sorgfältig zurechtgelegt. Sie musste über Nacht in Bellezza bleiben. Der Tag nach dem Sposalizio war der wichtigste Feiertag der Stadt und niemand, der nicht in Bellezza geboren war, hatte das Recht, auf der Hauptinsel zu bleiben. Selbst die anderen Lagunenbewohner aus Torrone, Merlino und Burlesca mussten um Mitternacht auf ihre Inseln zurückkehren. Wer gegen diese Regel verstieß und trotzdem am Giornata Vietata – dem Verbotenen Tag –
in Bellezza verweilte, wurde mit dem Tode bestraft. Aber seit Menschengedenken hatte es keiner mehr gewagt.
Arianna ging keine Risiken ein; sie wusste genau, wo sie sich verstecken würde.
Um Mitternacht würden die Glocken von Santa Maddalena nochmals erklingen und am Ende des Geläutes musste sich jeder Nicht-Bellezaner, ob Insulaner oder fremder Besucher, auf den Booten über das Wasser entfernen. Tommaso und Angelo würden ohne sie aufbrechen müssen. Aber da wollte sich Arianna schon sicher versteckt haben.
Sie schlüpfte in den höhlenartigen Dom, während draußen noch alle Oh! und Ah!
riefen, als die Feuerwerksgarben erstrahlten, zerbarsten und wieder verloschen.
Santa Maddalena war noch hell von Kerzen erleuchtet, aber die Kirche war leer.
Eilig erklomm Arianna die ausgetretenen, steilen Stufen, die zu dem großen Schausaal hinaufführten.
In ganz Bellezza war dies Ariannas Lieblingsort. Sie fand immer einen Weg hinein, selbst wenn der Dom so von Besuchern belagert war, dass sie um den ganzen Platz herum Schlange stehen mussten und nur in Gruppen eingelassen wurden, wie Schafe, die man in ein Bad trieb. Der Saal selbst mit seinen verstaubten Schriften interessierte sie dabei gar nicht sonderlich. Arianna eilte durch ihn hindurch, vorbei an den vier Originalstatuen der bronzenen Widder, und trat hinaus auf den Altan, wo vor einer Stunde die Duchessa gestanden hatte – zwischen den beiden nachgebildeten Paaren.
Arianna sah hinunter auf den Platz, auf dem sich die Leute drängten. So viele, dass man leicht jemanden aus den Augen verlieren konnte. In der Menge der Festgäste konnte sie ihre Brüder nicht ausmachen, aber sie dachte liebevoll an sie. »Nicht weich werden«, wies sie sich streng zurecht. »Das ist die einzige Chance.« Sie ließ sich neben einem der Bronzebeine nieder und hielt sich Trost suchend daran fest, während am Himmel Signor Rodolfos Finale zerplatzte. Es würde eine lange und ungemütliche Nacht werden.
Lucien wachte auf und spürte die Sonne auf seinem Gesicht. Sein erster Gedanke war, dass seine Mutter im Zimmer gewesen war und das Fenster geöffnet hatte, aber als er richtig wach wurde, sah er, dass er sich im Freien befand.
Ich muss wohl noch träumen, dachte er, aber es störte ihn nicht. Es war ein wunderbarer Traum. Er war in der schwimmenden Stadt, da gab es keinen Zweifel. Es war sehr warm und doch noch früh am Morgen. Das hübsche Notizbuch war noch in seiner Hand. Er steckte es in die Schlafanzugtasche.
Er stand auf; im Traum war das leicht. Er befand sich in einem Säulengang aus kühlem Marmor, aber zwischen den Säulen, dort, wo die gleißende Sonne hereinschien, gab es warme Lichtflecken, die so wohltuend waren wie ein heißes Bad.
Lucien kam sich irgendwie anders vor; er griff sich an den Kopf und spürte seine alten Locken. Es war also eindeutig ein Traum.
Er trat auf den Platz hinaus. Dort schien irgendein großes Fest stattgefunden zu haben; die wenigen Leute, die herumliefen, fegten auf und steckten Abfall in Säcke
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