Stadt der Schuld
Priestley fragen. Ich arbeite jetzt seit eineinhalb Jahren für Sie unten bei den Hopper Feedern und habe noch nicht einen Tag gefehlt.«
Doch Ashworth schien immer noch nicht überzeugt zu sein, fast, als hege er einen Groll gegen ihn, dachte Aaron. Ob er immer noch verärgert war wegen der Sache mit Cathy? Doch warum hatte er ihn dann überhaupt in sein Büro befohlen? Sein Gegenüber lehnte sich wieder in betont entspannter Haltung in seinen Sessel zurück und legte die Fingerspitzen seiner gespreizten Hände aneinander. »Was ich von meinen leitenden Angestellten erwarte«, sagte er gedehnt, »ist neben einer ausreichenden Qualifikation und besonderem Fleiß vor allem eines, Stanton: Absolute Loyalität mir gegenüber!«
»Selbstverständlich, Mr Ashworth!«, sagte Aaron und bemühte sich, seine Irritation zu verbergen. Was um alles in der Welt meinte er?
»Leider habe ich gerade im letzten Punkt meine Zweifel dir gegenüber!«
Aaron war fassungslos. »Aber warum denn nur, Mr Ashworth? Ich gehöre keiner dieser neuen Arbeitergewerkschaften in der Stadt an und auch mit den Chartisten habe ich noch nie etwas am Hut gehabt, wenn Sie das glauben. Wenn Ihnen jemand etwas anderes erzählt hat, sind das nichts als Lügen. Sie brauchen sich also wirklich keine Sorgen ...«
»Wer weiß, Stanton ... mir ist zu Ohren gekommen, dass du dazu neigst, so manches infrage zu stellen. Etwas, was dir in keiner Weise zusteht.«
»Nein, ganz bestimmt nicht, Mr Ashworth.« Aaron wurde immer verzweifelter. Was konnte der Mann nur gegen ihn haben? Wer hatte ihn angeschwärzt? Er begann zu bitten: »Sir, dieser Posten ist sehr wichtig für mich. Wie Sie wissen, habe ich Familie und außerdem haben wir drei der Kinder eines verstorbenen Kollegen bei uns aufgenommen. Ich weiß nicht, wie ich uns alle sonst ernähren soll.«
Ashworth sah ihn ungerührt an. »Mit ehrlicher Arbeit, wie alle anderen auch, Stanton.«
»Aber Sir, der Lohn eines Arbeiters reicht einfach nicht für uns alle, das wissen Sie doch selbst ...«
Ashworth winkte ab. »Genug! Das ist nicht mein Problem. Die Sache ist ohnehin entschieden. Ich werde einem anderen den Posten übertragen. Das kannst du auch Wheaton mitteilen. Er soll sich unterstehen, mir noch einmal jemanden wie dich vorzuschlagen.«
Aaron kamen fast die Tränen. All die Hoffnung, die er in den letzten Tagen gehegt hatte, war mit einem Schlag zunichte. Was sollte nur aus ihnen werden? Jetzt musste Cathy doch wieder arbeiten gehen, wenn sie nicht verhungern wollten. Doch er konnte nichts mehr tun. Es lag allein in Ashworths Entscheidung. Wortlos wandte er sich dem Ausgang zu.
»Warte, Stanton!« Die scharfe Stimme seines Arbeitgebers hielt ihn zurück. Hatte er es sich vielleicht doch noch anders überlegt? »Ich bin kein Unmensch. Wenn du so dringend Geld brauchst, dann kann ich dir einen Platz bei den Heizern geben.«
»Bei den Heizern?!«, fragte Aaron entsetzt. Das war ein knochenharter Job, keiner riss sich darum, obwohl er etwas besser bezahlt war als die Arbeit an den Spinnmaschinen. Doch die Arbeit direkt bei den beiden großen Dampfmaschinen laugte die Männer, die dort unablässig Kohle in die gefräßigen Feuermäuler der Kolosse zu werfen hatten, schrecklich aus. Schwitzend und rußverschmiert krochen sie nach ihren Schichten aus der Feuerhölle heraus, oft so erschöpft, dass sie kaum noch gerade stehen konnten. Keiner hielt das allzu lange durch. Und das bot Ashworth ihm nun als Alternative an? Welch ein Hohn! Am liebsten hätte er dem Mann ins Gesicht gespuckt.
»Vierzehn Schillinge die Woche, Stanton. Immerhin vier mehr, als du jetzt verdienst. Das ist mein Angebot. Überlege es dir!«
Was hatte er für eine Wahl? Sie mussten irgendwie überleben. »Ja, Mr Ashworth!«, sagte er ergeben und öffnete die Tür. Nur raus hier! Er ertrug den selbstzufriedenen Blick dieses Mannes nicht länger. Was sollte er jetzt nur Cathy sagen? Sie war so glücklich gewesen, als er ihr von der Aussicht auf die begehrte Stelle berichtet hatte. Nun war alle Hoffnung zunichte.
Mit schwerem Schritt stieg er die Treppe, die nach draußen führte, hinunter.
Als er ins Freie trat, hatte sich längst vorwinterliche Dunkelheit über den weiten Hof der Fabrik gebreitet. Das schmutzige, verrußte und von einer hohen Mauer umgebene Gelände wurde nur durch den trüben Schein aus den erleuchteten Fabrikfenstern erhellt. Das Dröhnen und Rattern der Maschinen aus dem Inneren des großen, kastenförmigen
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