Stadt der Schuld
Speichel rannen ihm über das Kinn. »Fallen lassen, du Ratte!«, befahl Aaron und verdrehte ihm den Arm noch stärker. Tom begann zu schreien. Aaron grinste befriedigt. Es gefiel ihm, Tom wehzutun. Ja, er würde den Arm dieses Mannes mit Wonne brechen. Tom spürte wohl die Entschlossenheit seines Angreifers und ließ das Messer plötzlich fallen. Fast bedauerte Aaron das Einlenken seines Gegners. Ein Aufstöhnen ging durch die Menge. Mit einer weiteren geschickten Bewegung warf Aaron den Mann zu Boden, setzte sich auf ihn und hielt ihn mit eisernem Griff fest. Tom wehrte sich zwar noch, doch es war klar, dass er verloren hatte. Er spuckte aus. »Was ist in dich gefahren, Stanton? Warum schlägst du mich?«
»Das weißt du ganz genau, du mieses Schwein!«
»Ich hab dir nichts getan, Stanton! Du bist verrückt!« Tom versuchte, ihn erneut abzuwerfen, doch es gelang ihm nicht.
Aaron spuckte ihm mitten ins Gesicht. »Du bist ein Schwein und ein Lügner, Tom Clarke. Du hast erreicht, was du wolltest. Bist du nun zufrieden?«
»Hä? Spinnst du? Ich ...«
»Darf ich fragen, was das hier zu bedeuten hat?«
Die gaffende Menge der Arbeiter wich jäh auseinander. In der entstehenden Gasse zwischen den Leibern sah Aaron aus den Augenwinkeln Mr Ashworth, gekleidet in einen Mantel aus feinstem Tuch und mit seinem üblichen hohen Zylinder auf dem Kopf, einen Gehstock mit einem goldenen Knauf in der Hand. Gerade wie ein Gentleman, wie ein verfluchter adeliger Gentleman. Er wollte offenbar noch ausgehen und war auf den Aufruhr auf seinem Hof aufmerksam geworden. Ashworth erkannte ihn im gleichen Augenblick. »Stanton, aha! Nun ja, das hätte ich mir denken können. Das beweist mir, wie recht ich mit meiner Entscheidung hatte. Ich werde dir einen Wochenlohn streichen, Stanton.«
Die Arbeiter murrten. Schließlich war nichts vom Besitz des Unternehmers beschädigt worden. Was ging es Ashworth an, wenn zwei Männer eine Meinungsverschiedenheit ausfochten, auch wenn er der Besitzer der Fabrik war? Doch der ließ sich nicht beirren. Herausfordernd ließ er seinen Blick durch die Menge schweifen: »Hat noch jemand etwas dazu beizutragen ...? Nicht? Gut so! Hier bestimme ich. Und ich wünsche keine Schlägereien auf meinem Gelände, lasst euch das gesagt sein. Prügelt euch in der Gosse, wenn es sein muss, aber nicht hier! Und jetzt räumt das Gelände, verstanden? Wer nicht arbeitet, hat hier auch nichts zu suchen.« Widerwillig fügten sich die Männer, aber sie wagten nicht zu widersprechen. Einer nach dem anderen trollte sich vom Hof. Aaron ließ Tom los und stand auf. Ashworth ließ seinen Blick höhnisch über sein ramponiertes Gesicht und den inzwischen heftig blutenden Schnitt, den ihm Tom mit dem Messer beigebracht hatte, gleiten. »Ich hoffe, du bist morgen wenigstens in der Lage, deiner Arbeit als Heizer nachzukommen, Stanton«, meinte er spöttisch, während er sich beiläufig seine Handschuhe überstreifte, »ich dachte, du hast das Geld so nötig?« Dann wandte er sich grußlos ab.
»Was ist nur in dich gefahren, Stanton?«, stöhnte Tom, rappelte sich mühsam hoch und wischte sich das Blut aus dem Gesicht. Seine Worte klangen undeutlich, der ausgeschlagenen Zähne wegen.
»Ach, halt's Maul, Clarke!«, schnauzte Aaron, während er dem Besitzer der Ashworth Spinnerei hinterherstarrte, wie dieser mit ausgreifenden Schritten den Fabrikhof verließ. Er hasste diesen Mann! Er hasste sie alle! Er würde nicht mehr klein beigeben.
Kapitel 14
Kapitel 14
Als Ashworth im Gebäude der Industrie- und Handelskammer von Manchester eintraf, hatte die Versammlung bereits begonnen, wenn auch erst vor einigen Minuten. Mit ihm betraten noch zwei andere Unternehmer den großen Saal, den man zum Zwecke der Versammlung angemietet hatte. Ihr Zuspätkommen fiel nicht weiter auf, da der Saal ohnehin mit Industriellen, Unternehmern und Händlern aus dem ganzen Nordwesten bis zum Bersten gefüllt war. Sogar ein paar bekannte Gesichter aus Birmingham waren zu entdecken, wie Ashworth mit einem schnellen Blick in die Menge feststellte. John Bright, neben Richard Cobden der wichtigste Kopf der Freihandelsbewegung, war gerade dabei, die Menge zu begrüßen und auf das Thema der Versammlung einzuschwören. Mit ihm auf der Tribüne, die an der Stirnseite des Saals aufgestellt worden war, saß natürlich auch der Anführer der Bewegung, Cobden, höchstpersönlich sowie dessen enger Freund Archibald Prentice. Daneben wartete, wie Ashworth es bereits
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