Stadt der Schuld
produzieren und verkaufen kann, wo und wann er mag, wenn allein der Bedarf – ohne staatliche Reglementierung – unsere Märkte regelt, wenn gleichzeitig Wissenschaft und Bildung für alle Mitglieder unserer Gesellschaft in dem Maße zunehmen, wie die Produktionsfähigkeit nicht nur unseres Landes, sondern irgendwann der ganzen Welt, dann wird keine Notwendigkeit mehr sein, Kriege zu führen. Keine Notwendigkeit mehr, stur den eigenen Vorteil zu suchen! Denn wir alle werden gleichermaßen den Vorteil eines ausgewogenen Marktes genießen, die Reichen wie die Armen. Ja, ich will sogar so weit gehen zu sagen, dass selbst die Armut verschwinden wird, denn alle werden ihren Anteil an den freien Gütern haben. Der Freihandel wird das Gesicht der Welt verändern, meine Freunde, dessen bin ich gewiss ...« Bereits jetzt erfasste die Menge im Saal eine große Erregung. Einzelne brachen in Applaus aus, während andere ihrer Zustimmung lautstark Ausdruck verliehen. Ashworth kannte das schon. Cobden vermochte die Massen zu begeistern. Er war ein brillanter Redner. Doch noch war er nicht am Ende. Er hob die Arme und dämpfte die inzwischen mächtig anschwellende Begeisterung. »Meine Freunde und Weggefährten, meine Mitstreiter für eine neue Ordnung: Ja, der Freihandel wird das Gesicht der Welt verändern, das verspreche ich hier und heute! Ich glaube, dass das Streben nach großen und mächtigen Weltreichsbildungen, nach gigantischen Armeen und Flotten aufhören wird, das Verlangen nach all den Dingen, die benutzt werden, um Leben zu zerstören und die Früchte der menschlichen Arbeit zu verwüsten. All das wird aufhören, wenn die Menschheit eine Familie wird und jeder die Früchte seiner Arbeit mit seinem Mitmenschen frei austauschen kann.Und ich glaube, dass man in tausend Jahren die größte Revolution in der Weltgeschichte auf den Tag datieren wird, an dem das Prinzip des Freihandels sich durchsetzt, für das wir hier eintreten.« 27 Jetzt war keine Halten mehr. Die Menge schrie, johlte und trampelte mit den Füßen vor Begeisterung. Ashworth sah sich um. Cobden hatte es wieder mal geschafft. Nun waren die Leute bereit, ihm aus der Hand zu fressen. Alles, was er jetzt sagen oder vorschlagen würde, würden sie aufnehmen wie Manna in der Wüste. Einerlei – ihm waren die hehren Ziele der League herzlich egal. Hauptsache, er fand bessere und vor allem stabilere Absatzmärkte, als es momentan der Fall war und er war sich sicher, dass einige der hier Anwesenden ebenso dachten. Doch nun brannte er wie die anderen darauf zu hören, welche neuen Ideen für die Durchsetzung ihrer Ziele vorgestellt werden sollten. Cobden bat einmal mehr um Ruhe, die sich nach einer kurzen Zeit auch einstellte. »Wie ihr alle wisst, meine lieben Freunde, ist es uns bisher nicht gelungen, das Parlament im fernen London von der Notwendigkeit unserer Ziele zu überzeugen. Wir alle wissen auch, wieso das so ist. Wer sitzt im Parlament? Sind es Menschen wie wir, Angehörige des Mittelstandes? Nein, es sind Adelige, Grundbesitzer, Kornproduzenten. Eine kleine Gruppe mit den gleichen, jahrhundertealten Interessen macht die Gesetze. Nicht für uns, nein, zu ihrem eigenen Vorteil! Sie hören nicht auf uns, die Unternehmer, die wir das Rückgrat der Wirtschaft sind. Sie hören nicht auf den Aufschrei der Bürger, der Dichter und Denker dieses Landes – und es sind deren viele. Was also können wir tun?« Murren machte sich unter den Anwesenden breit. Fast alle hatten die Petition der Freihandelsbewegung im letzten Jahr unterzeichnet, die dann im Parlament so grandios gescheitert war. Ein herber Rückschlag. »Ich werde euch sagen, was wir tun können und was wir bereits jetzt tun. Wir werden weiterhin nicht müde werden, unsere Ideen zu verbreiten in Wort und Schrift, in Eingaben und Petitionen. Wir werden sie nicht in Ruhe lassen, diese Herren in Londons Parlament. Aber wir werden noch mehr tun, viel mehr! Und dazu möchte ich euch jetzt diesen jungen Mann vorstellen. Einen jungen Mann, der nachweislich Verstand hat und der verstanden hat: Mr Godfrey Fountley!« Verhaltener Applaus wurde hörbar. Die wenigsten hatten je von Fountley gehört, deshalb wollte man erst einmal abwarten, was er zu sagen hatte. Auch Ashworth spitzte gespannt die Ohren.
»Verehrte Anwesende«, begann dieser, als er Cobdens Platz am Rednerpult eingenommen hatte. Er räusperte sich. Offenbar war er es noch nicht gewohnt, zu einer derartig großen Menge zu sprechen. Dann aber
Weitere Kostenlose Bücher