Stadt ohne Namen
Realitäten.
Der erste gräßliche Zwischenfall unserer Bekanntschaft war der größte Schock, den ich je erlebte, und ich gebe ihn nur ungern wieder. Wie ich bereits sagte, geschah es, als wir Medizin studierten. West hatte sich wegen seiner unmöglichen Theorien über die Natur des Todes und die Möglichkeit, ihn künstlich zu besiegen, unmöglich gemacht. Seine Ansichten, die von der Fakultät und seinen Mitstudierenden weitgehend lächerlich gemacht wurden, drehten sich um die in der Hauptsache mechanisch ablaufende Natur der Lebensvorgänge und erstreckten sich auf die Mittel, den menschlichen Organismus durch genau berechnete chemische Vorgänge anzuregen, wenn der natürliche Prozeß aussetzte. Er hatte während seiner Experimente mit verschiedenen belebenden Lösungen ungeheuere Mengen von Kaninchen, Meerschweinchen, Katzen, Hunden und Affen behandelt und getötet, bis er für die Universität zur größten Belastung wurde. Es war ihm wirklich ein paarmal gelungen, bei scheinbar toten Tieren Lebensregungen hervorzurufen, in vielen Fällen sogar sehr heftige, aber er sah bald ein, daß die Vervollkommnung dieses Prozesses, falls er wirklich durchführbar war, notwendigerweise lebenslängliche Forschungsarbeit erfordern würde.
Es wurde gleichermaßen klar, daß die gleiche Lösung bei verschiedenen lebenden Arten nie dieselbe Wirkung haben könne, er würde für den weiteren, spezialisierten Arbeitsprozeß menschliche Versuchsobjekte benötigen. Hier geriet er das erste Mal mit den Universitätsbehörden in Konflikt und wurde aus weiteren Experimenten von keinem geringeren Würdenträger als dem Dekan der Medizinischen Fakultät in Person, dem gelehrten und wohlwollenden Dr.
Allan Halsey, ausgeschlossen, dessen Arbeit im Interesse der Leidenden jeder alte Einwohner von Arkham in Erinnerung hat.
Ich war Wests Studien gegenüber stets ausnehmend tolerant gewesen, und wir erörterten häufig seine Theorien, deren Verzweigungen und Zusätze schier endlos waren.
Mit Haeckel einer Meinung, daß alles Leben ein chemischer und physikalischer Prozeß sei und daß die sogenannte »Seele« eine Mythe ist, glaubte mein Freund, daß die künstliche Wiedererweckung eines Toten vom Zustand seines Körpergewebes abhinge und daß, solange die tatsächliche Verwesung noch nicht eingesetzt habe, ein Körper, der im Besitz all seiner Organe ist, mit entsprechenden Maßnahmen wieder funktionsfähig gemacht werden könne, in der ihm eigentümlichen Art, die wir Leben nennen. Daß das Seelen− oder Geistesleben durch einen geringfügigen Verfall der empfindlichen Hirnzellen, den selbst ein kurzfristiger Tod verursachen könnte, beeinträchtigt würde, war West völlig klar. Es war zunächst seine Hoffnung gewesen, ein Reagens zu finden, das die Lebensfähigkeit vor dem Eintritt des eigentlichen Todes wiederherstellen würde, und nur wiederholte Fehlschläge mit Tieren hatten ihm gezeigt, daß natürliche und künstliche Lebensregungen unvereinbar seien. Dann trachtete er nach äußerst frischem Erhaltungszustand seiner Versuchsobjekte, 60
indem er seine Lösungen unmittelbar nach dem Erlöschen des Lebens ins Blut injizierte. Es war dieser Umstand, der seine Professoren so unbedacht skeptisch machte, denn sie hatten das Gefühl, daß der Tod noch in keinem Fall wirklich eingetreten war. Sie nahmen sich nicht die Zeit, sich mit der Sache näher und vernunftgemäßer zu befassen.
Nicht lange, nachdem ihm die Fakultät seine Arbeit untersagt hatte, vertraute West mir seine Entschlossenheit an, sich auf irgendeine Weise frische Leichen zu verschaffen und im geheimen seine Versuche fortzusetzen, die er nicht mehr öffentlich durchführen durfte.
Ihn die Mittel und Wege erörtern zu hören, war ziemlich abstoßend, denn an der Universität hatten wir uns die anatomischen Versuchsobjekte nie selbst beschaffen müssen. Immer, wenn der Bestand an Leichen ungenügend war, nahmen sich zwei ortsansässige Neger der Sache an, und man stellte ihnen selten unangenehme Fragen. West war damals ein kleiner, schlanker, bebrillter Jüngling mit zarten Gesichtszügen, blondem Haar, blaßblauen Augen und einer sanften Stimme, und es wirkte unheimlich, ihn bei den sehr relativen Vorzügen des Friedhofs der Christ Church und des Potters Field verweilen zu hören, denn in der Christ Church wurde praktisch jede Leiche einbalsamiert, eine Tatsache, die sich auf Wests Forschungsarbeit natürlich ruinös auswirkte. Ich war zu der Zeit sein aktiver und
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