Stadtlust - vom Glueck, in der Großstadt zu leben
150000 Lauben haben sich mehr und mehr vom vermeintlichen Spießerparadies zum hippen »must-have« gewandelt; statt einsamem Gärtnern nach Vorschriften oder auf eigenem Grund punktet mehr und mehr spielerischer Dilettantismus im Team, Ernteerfolg nicht ausgeschlossen. Und wer lieber risikolos ernten will, findet in aktuell 16 Großstädten von Aachen bis Wiesbaden professionell bepflanzte Mietbeete der Firma »Meine Ernte« mit 20 verschiedenen Gemüsesorten, die nur noch gegossen und unkrautgezupft werden müssen.
Zum Schluss die schlechte Nachricht: Ob pachten oder mieten – fast überall übertrifft die Gartennachfrage das Angebot bei Weitem.
Schrebergarten 2.0
Das »Gespenst« mit dem Dreck unter den Fingernägeln wäre aber nicht ernst zu nehmen, böte es keine Alternative für all diejenigen, die auch ohne Mitgliedschaft bei »Meine Ernte« oder in der »Laubengemeinschaft Frohsinn e.V.« in der Erde wühlen wollen. Schon seit Mitte der 1990er Jahre treffen sich Menschen mit und ohne Zuwanderungsgeschichte in »Internationalen Gärten«, die über die Stiftung Interkultur auch miteinander vernetzt sind. Den ersten gründeten 1996 bosnische Flüchtlingsfrauen in Göttingen, inzwischen gibt es deutschlandweit rund 130, wovon die Berliner »Prinzessinnengärten« am Moritzplatz die größte Berühmtheit erlangt haben. Sie teilen ihr Ziel gleichwohl mit anderen neuen Großstadtgärten wie etwa dem Münchner Projekt »o-pflanzt is« am Olympiapark, dem Hamburger »Gartendeck« an der Großen Freiheit oder der »pflanzstelle« in Köln-Kalk: gemeinsam Kräuter, Obst und Gemüse aus der alten und neuen Heimat anbauen und dabei bestenfalls das Heimweh und lästige Vorurteile überwinden, in jedem Fall aber neue Kontakte und Freundschaften schließen mit Menschen, die man sonst vermutlich nie kennenlernen würde. Oder wie die Stadtsoziologin Christa Müller schreibt: »Die Erfahrung vieler Migrantinnen und Migranten, dass ihre Anwesenheit hinterfragt und angezweifelt wird, entfällt im Garten. Natur bewertet nicht, Natur beheimatet.«
Am üppigsten wuchert die neue Gartenkultur zweifelsohne in Berlin. Allein 24 interkulturelle Gärten sind hier zu finden; der erste eröffnete im Juni 2003 auf einer Brache im Bezirk Treptow-Köpenick. Im »Wuhlegarten«, wie die Anlage inzwischen heißt, werkeln auf einer Fläche von 4000 Quadratmetern Kasachen, Vietnamesinnen, Russinnen, Ägypter, Ungarn, Inder, Afghanen, Ukrainerinnen, Bosnier, Argentinier und Deutsche. Koriander sprießt neben Süßkartoffeln, Heidelbeeren neben Roter Bete. »Wir tauschen Saatgut und Rezepte, wir grillen zusammen und streiten auch mal darüber, ob Beete mit Steinen zu umrahmen sind, wie in Ägypten, oder nicht, wie in Vietnam«, erzählt Mitbegründerin Gerda Münnich, eine Urpflanze der Berliner Gartenszene.
In den Prinzessinnengärten sind eigene Beete, ist Privateigentum generell verpönt. Jeder kann mitmachen, mitarbeiten, miternten. Was an Kräutern, Setzlingen oder Jungpflanzen übrig bleibt – von Schnittlauch über Tomaten bis zu marokkanischer Minze –, wird wie in einer Gärtnerei verkauft. Auf öffentliche Mittel verzichten die beiden Gründer bewusst, ihre Prinzessinnengärten laufen auch ohne so gut, dass sie das Modell mittlerweile in mehrere Berliner Schulen und sogar über Deutschlands Grenzen hinaus exportiert haben.
Noch mehr schwärmt die 1939 geborene Bauerstochter und überzeugte Großstädterin Gerda Münnich gerade allerdings vom jüngsten Berliner Gartenpflänzchen: dem Allmendekontor im Tempelhofer Flugfeld in Berlin – von Autor Martin Rasper etwas euphorisch als »größter Gemeinschaftsgarten Europas« bezeichnet.
Womit er ganz sicher recht hat, ist, dass hier der Geldmangel des Berliner Senats ausnahmsweise etwas Grandioses bewirkt hat: nämlich die weitestgehende Nichtgestaltung des riesigen ehemaligen Rollfeldes. Wo bis 2008 noch täglich Dutzende Flugzeuge über die Landebahnen donnerten, gleiten nur noch Radler, Skater und Windsurfer über den Asphalt, öffnet sich der weiteste Blick auf den Himmel über Berlin. Nur an den Rändern dürfen sich auserwählte »Pilotprojekte« temporär niederlassen; darunter eben der Allmendegemeinschaftsgarten. Aber was heißt schon Garten? Auf dem Land und in den Land-verherrlichenden Zeitschriften und TV -Dokus wüsste man genau, wie ein solcher auszusehen hat: Klassisch schöne Hecken oder flirrende Bougainvillea, drinnen ein paar Obstbäume mit alten Sorten wie
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