total im Arsch. Mein ganzes Leben liegt in Scherben. Die ganze Welt entgleitet mir. Ich muss mich sogar aus ihr zurückziehen, weil ich ihren Maßstäben nicht mehr gerecht werde.«
»Sich von der Welt fern zu halten, ist eine absolut lobenswerte Art zu leben, mein Freund. Sie ist sogar einer unserer Grundsätze. Wehre dich nicht dagegen, nimm dein Los an. Du wirst sehen, am Ende geht die Welt zugrunde, aber du bestehst. Komm zu uns, wir sind wie du. Wir entsagen gemeinsam der Welt, halten uns fern. Am Ende jedoch, da werden wir noch da sein, die Gesellschaft, der du entfliehen willst, nicht.«
»Ach, und wieso durfte der liebe Florian nicht mehr hier sein? Wollten Sie nicht sehen, ob er es schafft?«
»Er wollte einen Aderlass mit gleichzeitiger Bluttransfusion von gesundem Blut. Aber die Blutaufnahme ist nun mal ein Tabu bei uns. Er insistierte, darum musste er gehen. Hast du ihn getroffen? Ich möchte wirklich wissen, wie es ihm geht.«
Ich wollte ihm sagen, was für ein Heuchler er war, schluckte meine Wut aber hinunter. Was ich nun zu sagen hatte, würde ihn sicher noch mehr treffen.
»Es geht ihm gut. Er ist verwandelt, beißt aber keine Menschen. Er ist harmlos, friedlich. Florian ist stark, nicht ich. Er hat widerstanden. Es muss unglaublich schwer sein, dem animalischen Drang so lange zu widerstehen. Er ist rein, nicht ich.«
»Das freut mich. Freut mich wirklich sehr. Vielleicht wird er nach seinem Tod doch noch ein Plätzchen als geistiger Sohn Gottes bekommen. Und was ist nun mit dir? Wirst du über ein Leben mit Gleichgesinnten nachdenken?«
Ich dachte tatsächlich einen Moment lang darüber nach. Ein Leben unter den Zeugen würde mir vielleicht eine neue Heimat bescheren. Einen Zufluchtsort. Ein neues Leben. Aber die selbstgerechte Art meines Gesprächspartners sagte mir, dass er mich bald zur Weißglut treiben würde. Und wenn es unter Jehovas Zeugen mehr Menschen wie ihn gab als solche wie Florian, würde ich das kalte Kotzen bekommen. Also lehnte ich ab, sehr zur Bestürzung meines Gegenübers.
»Das ist schade. Wirklich schade. Ich muss dich nun bitten zu gehen. Solltest du es dir anders überlegen, steht unsere Tür dir offen.«
Also wurde ich zur Tür geleitet, dieses Mal etwas weniger herzlich als zuvor. Als Kaufmann mir die Tür geöffnet hatte, wurde er von einem seiner Mitbewohner gerufen. Er ließ die Tür ins Schloss fallen, aber ein Stück Stoff von außen verhinderte, dass sie sich ganz schloss. Dann öffnete sie sich wieder und eine hagere Gestalt betrat den Eingang. Es war Florian. Er war noch immer mutiert, aber seine Augen zeigten keine Anzeichen von Aggressivität. Ich bewunderte ihn und war ernsthaft froh, ihn zu sehen. Florian war für mich eine Art Seelenbruder geworden. Beide waren wir Ausgestoßene unserer Gemeinschaft. Er nickte mir zu, berührte sanft meinen Arm mit seiner Hand. Ich tat es ihm gleich. Eine Weile standen wir so da: Zwei der Welt entrückte Freaks, in trauter Zweisamkeit. Dann kam Kaufmann zurück. Als er Florian sah, erstarb der Rest des Lächelns, das er auf seinem Gesicht getragen hatte. Aber nur kurz. Es kam postwendend, wenn auch etwas affektierter zurück.
»Florian! Schön, dass du zurück bist. Ich habe gehört, du bist stark gewesen. Das ist schön.«
Florian lächelte sanft und legte erst mir die Hand auf die Schulter, dann seinem Gesprächspartner. Er wandte sich um, ohne die Hand von dem Mann zu nehmen, und zwinkerte mir zu. Dann drehte er den Kopf zurück, packte urplötzlich mit aller Kraft zu und biss seinem Glaubensbruder tief in den Hals. Kaufmann schrie, doch Florian ließ nicht locker. Der Zeuge gab gurgelnde Laute von sich, als Florian sich weiter in seinen Hals verbiss. Aus der Wunde strömte Blut, das von Florian aufgesogen wurde. Ich legte Florian zum Abschied meine Hand auf die Schulter, aber er bemerkte mich nicht mehr. Er war zu sehr mit der sündigen Blutaufnahme beschäftigt. Ich tat nichts, um ihn daran zu hindern und ging hinaus in die Nacht. Ich hatte noch immer kein Ziel, keinen bestimmten Ort, an den ich gehen wollte. Also schritt ich einfach drauf los.
ENDE.
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