Stahlhart
absteigenden Ast bist und auch wohl deine Arbeit vernachlässigst. Junge, lass dich nicht hängen. Ich kenne das aus eigener Erfahrung. Wie du weißt, ist meine Scheidung auch noch nicht so lange her, und ich kann dir sagen, dass ich bestimmt eine tolle Frau hatte. Ich habe sie unheimlich geliebt. Aber ich habe nicht zugelassen, dass mich die Scheidung runterzieht, sondern mich in meine Arbeit gestürzt. Das Gleiche möchte ich dir empfehlen. Dann kommst du auf andere Gedanken.«
»Danke für den Rat, aber ich komme schon klar.«
Das Gespräch driftete ins Unergiebige ab und war dann relativ schnell beendet. Als Rainer sich umdrehte, um wieder zu seinem Platz zu gehen, kam die Schöne gerade aus der Damentoilette und lächelte ihm wieder zu. Rainer blieb stehen und blickte sie offen an.
»Entschuldigen Sie«, hörte er eine sympathische Frauenstimme sagen, »wenn ich Sie einfach so anspreche. Es ist sonst nicht meine Art. Schon gar nicht bei Männern. Aber mir fiel Ihre Traurigkeit auf. Sie passt überhaupt nicht zu Ihrer sonstigen Erscheinung. Dieser Widerspruch weckt mein Interesse, obwohl ich natürlich nicht unhöflich oder gar indiskret sein möchte. Aber ein Mann, der ein solches Lächeln hat wie Sie, sollte nicht traurig sein. Er schenkt der Menschheit mehr, wenn er lächelt. Ich hoffe, es ist Ihnen nicht unangenehm, wenn ich Ihnen das so offen sage.«
»Vielen Dank für ein unvergleichliches Kompliment. Nein, natürlich ist es mir nicht unangenehm. Darf ich Sie an meinen Tisch bitten und Sie zu einer Tasse Kaffee einladen?« Rainer verfügte auch über dem Standard liegende Umgangsformen.
Der Kontakt war geknüpft. Beide gingen an Rainers Tisch, und nachdem die Formalitäten beim Kellner geklärt waren, vertieften sie sich in ein Kennenlern-Gespräch. Rainer erfuhr, dass sie Britta Kern hieß und– viel wichtiger– nicht verheiratet war. Im Gegenzug ließ er sich ein wenig hinter den Vorhang schauen und erzählte, dass er sich im Urlaub befand, und dann von seiner Scheidung, dem Grund für seine Traurigkeit.
Sie hörte interessiert zu, hatte Mitgefühl für ihn und berichtete etwas von ihrer Familie. Außerdem hatte sie vor nicht allzu langer Zeit ebenfalls eine Scheidung hinter sich bringen müssen. Für sie sei es allerdings eine Befreiung gewesen. Rainer beschrieb seinen Beruf, was sie faszinierend fand. Sie erzählte, dass sie bei der Bremer Bank arbeitete. So ging es Zug um Zug fort. Beide fanden sich sehr sympathisch, beide fanden den Draht zum anderen. Die Zeit verflog regelrecht, und irgendwann war die Stunde des Abschieds gekommen. Rainer brachte Britta noch zu ihrem Auto, wo sie weiterredeten, bis sie schließlich ins Auto stieg und fortfuhr. Aber nicht, ohne sich vorher mit Rainer für den nächsten späten Nachmittag am selben Ort zu verabreden.
Für Rainer war es nicht nur ein gelungener, sondern auch ein aufregender erster Urlaubstag gewesen. Irgendwie fand er, dass die Sonne auf ihn geschienen hatte. Vielleicht war eine Wende eingetreten, und das Glück hatte den Weg zu ihm zurückgefunden. Wie anders war diese Situation– ohne sie zu überschätzen– zu erklären?
Der nächste Tag schien für Rainer nicht zu vergehen. Obwohl er versuchte, sich zu beschäftigen, wollte der Uhrzeiger nicht weiterwandern.
Als es endlich so weit war, sah Britta hinreißend aus. Beide zogen sich an einen Tisch im hinteren Teil des Lokals zurück, wo sie Ruhe hatten und ungestört ihre Gespräche vom Vortag fortsetzen konnten. Wieder gaben sie Zug um Zug Geheimnisse von sich preis. Sie verstanden sich wunderbar, und der Abend verlief ähnlich harmonisch wie das erste Treffen. Mit dem Unterschied, dass sie nach einiger Zeit das Lokal verließen, um am Weserufer zu promenieren. Der Mond und die Promenadenbeleuchtung trugen zu einem romantischen Bild bei. Britta hatte sich bei Rainer eingehakt. So schlenderten sie am Ufer entlang, unterhielten sich, erzählten von sich. Die Vertrautheit nahm zu. Wobei Rainer allerdings stets darauf bedacht war, den Vorhang vor seinen Schattenseiten nicht zu weit zu öffnen.
Wieder verging die Zeit zu schnell. Wieder verabredeten sie sich für den nächsten Tag. Und wieder hatte Rainer ein wenig mehr Zuversicht gewonnen und einen Schritt nach vorn getan.
Einen kleinen Wermutstropfen gab es allerdings: Rainer hatte nicht den Mut gefunden, über seine prekäre finanzielle Situation zu sprechen. Immerhin arbeitete sie bei einer Bank. Irgendetwas musste er sich einfallen
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