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Stahlstiche

Stahlstiche

Titel: Stahlstiche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fritz J. Raddatz
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 Fahrkarte nach Weimar zu meiner Mutter + 50  Mark. Das war mein Vermögen.
    Für die 50  Mark kaufte ich mir als erstes in der nächsten Buchhandlung für etwa die Hälfte ein Buch mit dem Titel «Marx + Engels über Kunst + Literatur». Dann kaufte ich für meine Mutter + Schwester ein Mitbringsel in der HO , ich glaube ein Stück Butter und etwas Wurst. Dann hatte ich noch drei Mark Rest. Die wollte ich sparen, auf daß ein Vermögen daraus wachse. Dann ging ich nochmals in die Buchhandlung und blätterte. Dann las ich.
    Dann vergaß ich die Welt, die Zugabfahrt, meinen Vorsatz zu sparen. Dann kaufte ich das Buch. Es waren Balladen, zweiundzwanzig. Seitdem habe ich ein Vermögen.
    Es heißt, der Mann war glatt. Er war wohl eher steinern. Doch Steine zeigen Verwitterungen, Spuren. Die zeigten sich, wenn Stephan Hermlin lachte: Er konnte nämlich gar nicht lachen; das Gesicht zeigte dann eine Lach-Maske. Die Augen lachten nie. So war er wohl kein einheitlicher Mensch, war immer beides – Stalin-Hymniker und Verteidiger der Poesie; Honecker-Freund, aber einer, der diese Telefonnummer unter anderem nutzte, um den Briefwechsel Gershom Scholems mit Walter Benjamin zu retten; Entdecker wie Beschützer junger Dichter – die er dann unflätig beschimpfte, nannten sie sich «Flüchtlinge»; ein Marxist, der Nietzsche verteidigte, und ein Bürger, der Genosse war, trotzig konsequent in seiner Inkonsequenz. Ich konnte dem meinen Respekt nie versagen.
    In einer polemischen Replik auf meine Intervention während der Corino-Debatte ( DIE ZEIT 43 / 1996 ) schrieb er: «Er behauptet, er würde mich seit langem kennen. Kennt er mich?» Nein. Wer könnte jemanden «kennen», der eben dekretierte, Ossip Mandelstam sei friedlich in einem idyllischen Dorf auf der Krim gestorben, und – mit dem Tod des russischen Dichters in einem von Stalins Lagern konfrontiert – zugab: «Ich war schlecht informiert, weil ich schlecht informiert sein wollte.» Wie konnte ich jemanden «kennen», der mir schon in den sechziger Jahren vertraulich sagte: «Diese SED ist nicht meine Partei; aber wenn Sie diesen Satz veröffentlichen, werde ich leugnen, ihn je gesagt zu haben»?
    Was ich kannte, war anfangs ein junger Intellektueller, der in den Muff der frühen DDR Luft einließ, der von Éluard, Aragon, Rafael Alberti sprach; der rasch etwas elegant wurde. War ein Mutiger, der den eigenen Mut floh. War ein Mann, der auf krummem Wege geradeaus ans Ziel gelangen wollte. Das Ziel war seine Literatur. Es genügt, die zu kennen. Dieses Ziel hat er erreicht. Ein Held mag er nicht gewesen sein. Helden sind uninteressant. Heldentum verweht. Ein Vers wie dieser nicht:
    Ich weiß noch, wie im Strom das Boot der Liebe sank.
    …
    Der Worte Wunden bluten heute nur nach innen.
    Die Zeit der Wunder schwand. Die Jahre sind vertan.
    Von Stephan Hermlin bleiben genug Texte, die Aragons wunderbaren, an ihn gerichteten Satz rechtfertigen: «Die Zeit vergeht, das Herz geht zugrunde, es gibt keine Post mehr außer dem, was man schreibt.»
    Der Mann ohne Goldhelm: DIE ZEIT , 43 / 18 .  10 .  1996 ;
    Zeuge und Zeugnis: DIE ZEIT , 16 / 11 .  4 .  1997

Ein Fest fürs Leben
    Über Inge Feltrinelli
    Der Mann ist ein Mythos, seit seinem Tode zumal. Die Frau ist schon zu Lebzeiten eine Legende. Giangiacomo Feltrinelli, Erbe eines der größten europäischen Vermögen – die Mama wußte nicht, daß es außer Rolls-Royce auch noch andere Autos auf dieser Welt gab – gründete 1955 seinen Mailänder Verlag, der bis zur Stunde eines der kulturellen Zentren der Welt ist. Zuvor hatte er, aufgezogen auf den herrschaftlichen Besitzungen der Familie zwischen Gardasee und Tirol und mehrsprachig unterrichtet von Privatlehrern, mit 23  Jahren das «Istituto Feltrinelli» errichtet: ein junger Kommunist, von dessen üppigen Spenden jahrelang die KPI lebte, der auf der ganzen Welt Manuskripte oder Erstausgaben zur Geschichte der internationalen Arbeiterbewegung zusammenkaufte. Im Eingang des unweit der Mailänder Scala gelegenen Palazzo kann man noch heute die Fahne der «Commune» betrachten, wie in den hochmodernen Lesesälen Studenten aus aller Welt. Gleich zu Beginn war dem jungen Verleger dreifaches Glück beschert. Er konnte als willkommener Gast der Sowjetunion das Manuskript von Pasternaks «Doktor Schiwago» herausschmuggeln (der Bruch mit dem Kommunismus folgte
stante pede
); die Weltrechte kontrolliert das Mailänder Verlagshaus noch heute. Und er verlegte einen

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