Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Stahlstiche

Stahlstiche

Titel: Stahlstiche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fritz J. Raddatz
Vom Netzwerk:
Literatur der John Updike oder Saul Bellow.
    DIE ZEIT , 8 / 12 .  2 .  1998

«Schreiben ist Leben»
    Gespräch mit Arthur Miller
    FRITZ J. RADDATZ : Zwei Zitate zu Beginn; das erste ist ein indirektes, aus einem Essay von Ihnen über Eugene O’Neill, dessen Wort «Die Vereinigten Staaten haben ihre Seele verkauft, um die Welt zu erringen» Sie paraphrasieren. Dem entspricht Ihr eigenes Verdikt, Amerikas uneingestandene Religion sei die der Selbstzerstörung. Wenn Sie nun an anderer Stelle sagen: «Ein Stück schreiben heißt immer einen Liebesbrief schreiben» – dann fragt man sich: An wen sind Ihre über zwanzig «Liebesbriefe» adressiert?
    ARTHUR MILLER : Das ist nur in einem Widerspruch zu beantworten. Wenn ich mit Lenin sagen würde «an alle», wäre das zu vage; «an die Welt», aber wer ist «die Welt»? Fragte man mich: «Wieso schreiben Sie unentwegt weiter?», so müßte ich mit der Gegenfrage «Wieso atmen Sie weiter?» antworten. Schreiben ist Leben. Andererseits heißt Schreiben hier sich wehren gegen den aggressiven Materialismus dieses Landes – dessen Menschen man doch zugleich liebt. Man möchte das kleine Lämpchen Humanität in die Finsternis tragen.
    FJR : Ist Gewalt für Sie das Stigma Amerikas?
    MILLER : Fraglos. Der Motor, der dieses Land vom Entstehen an treibt, heißt Gewalt. Und weil wir – anders als in Europa – keinen Feudalismus kannten, den es gedanklich zu zersetzen galt, war es immer ein Pragmatismus der Gewalttätigkeit. Das hat zugleich alle amerikanischen Schriftsteller fasziniert – von Walt Whitman über Tennessee Williams zu James Baldwin. Sie verlangten nach Veränderung – und sie fürchteten sie. Schon Thoreau floh die großen Städte, haßte Boston, Philadelphia, New York; er sagte: «Wenn ich von weitem die Eisenbahn donnern höre, fürchte ich um dieses Land.»
    FJR : Hat diese Kluft zwischen Bangen und Hoffen Sie zum Ironiker gemacht, gar zum Skeptiker im Geiste mancher europäischen Denker, die jeglichen Sinn des Lebens leugnen?
    MILLER : Ironie? Gewiß. Je älter ich werde, desto ironischer wird mein Blick auf die Welt. Doch Ironie darf nicht verwechselt werden mit Passivität; dann würde man die Welt dem Bösen und den Bösen überlassen. Selbst mein neues Stück «Mr. Peter’s Connections» ist ja eine Art rhapsodische Reflexion der Frage: Ist unser Dasein nur absurd, bedeutungslos und nichtig, oder hat nicht jeder Mensch ein Stück Wahrheit – und das heißt Schönheit –, das sein Leben prägt wie trägt?
    FJR : Also doch eine aktivistische Dramaturgie? Arthur Millers Bühne eine Kanzel? Nicht Endspiel, sondern Spiel voran?
    MILLER : Wenn Sie da unausgesprochen den Begriff «Moral» einführen wollen – der ist mir tief verdächtig, ich mag ihn nicht, er umschließt Urteil und Verurteilen. Ich fühle mich nicht schuldlos genug, um andere zu verdammen. Selbst in einem Stück wie «Hexenjagd» habe ich die Balance zwischen Schuld, Versagen und Schuldlosigkeit einzuhalten versucht. Das Stück denunziert nicht, es demonstriert. Vielleicht ist das der Grund für seinen Siegeszug um die Welt, von Moskau bis Peking; oft zu meiner eigenen Verwunderung. Wenn meine schriftstellerische Arbeit eine Aktualität hat, dann nicht die an den Tag gebundene des Leitartiklers; sie hat eine existentielle Aktualität. Sie situiert den Menschen, lotet seine Verstrickungen aus, will niemanden belehren.
    FJR : Den Talar des Predigers kann ich Ihnen also nicht umhängen. Den des Anwalts vielleicht? In fast allen Ihren Stücken kommt ein Anwalt vor. Nun hat der ein Gesetzbuch unter dem Arm. Hat der Dramatiker Arthur Miller ein «theoretisches Gesetzbuch» unter dem Arm? Als junger Mann proklamierten Sie die «klassenlose Gesellschaft», und immer wieder benutzten Sie den Begriff Marxismus. Doch in Amerika gab es gar keinen Marxismus.
    MILLER : Lassen Sie mich mit dem Brooklyn-Boy Arthur Miller beginnen, der in bürgerlichem Wohlstand mit Limousine, Chauffeur und Kindermädchen aufwuchs – und den totalen Zusammenbruch dieser Welt durch die Depression der dreißiger Jahre erlebte. Das war meine erste Erfahrung von «klassenlos» – der Milliardär stürzte sich aus dem Wolkenkratzer, wie mein Handlungsreisender Willy Loman in den Tod fuhr. Die amerikanische Idee – eher von Thomas Jefferson als von Karl Marx inspiriert –, daß jedermann, ohne Namen, ohne Herkunft, in jegliche Höhe aufsteigen und in alle Tiefen hinabstürzen könne, daß der Großvater das

Weitere Kostenlose Bücher