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Stahlstiche

Stahlstiche

Titel: Stahlstiche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fritz J. Raddatz
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ist nicht dasselbe wie ein freies Leben. Manchmal schüttelt mich die Angst. Ich blicke nicht voll Enthusiasmus in die Zukunft.
    FJR : Und die Ära Clinton? Ist er nicht ein Schwätzer? Verspricht er nicht wie ein Weihnachtsmann dies und das – aber der Sack ist leer oder voll tauber Nüsse? Mal dürfen Homosexuelle in die Armee – dann wieder nicht. Mal Sozialgesetzgebungen – mal nicht. Und eine Reform des Gesundheitswesens, und übrig bleibt Mrs. Clintons Hütchen?
    MORRISON : Ich beurteile Clinton und seine Politik anders. Er ist Politiker, er macht Kompromisse, muß sie – auch mit den Republikanern – machen. Aber sein Bild, seine Ambitionen, auch Hillarys Arbeit werden von der Presse vollständig verzerrt. Sie geben albernen oder unappetitlichen Affären mehr Raum als seinen seriösen Projekten. Er weiß, was Rassismus diesem Land angetan hat, und er bekämpft ihn. Er hat viel verändert, atmosphärisch, aber auch mit realen Maßnahmen für die Armen – Erziehung, das Gesundheitssystem. Wir sind in einem dramatischen Übergang, und Clinton ist ein Präsident dieses Übergangs. Und wenn er geht, wird es blutig. Der Privatisierungswahn und ein hemmungsloser, unkontrollierter Kapitalismus: Es wird eine blutige Schlacht.
    FJR : Und Toni Morrison schlägt diese Schlacht auch in ihren Büchern. Oder ist Ihre literarische Arbeit auch Fluchtpunkt? Einerseits scheint mir, «Menschenkind» etwa ist ein eigener Mythos, mehr als ein Roman, Versuch, die amerikanische Geschichte neu zu schreiben. Andererseits denke ich mir, Sie sind – da weit weg von
l’art pour l’art
 – so durchdrungen von all dem, worüber wir sprachen, daß Sie doch aufschreien müssen.
    MORRISON : Sie haben mit beidem recht. Es war für mich zwingend, mit «Menschenkind» nicht ein deklamatorisches Buch über die Sklaverei vorzulegen, sondern eine Fabel über menschliche Schicksale. Diese Mischung aus Freiheit und gebändigtem Chaos, die mir an meinem Schreiben wichtig ist, macht mir meine Arbeit zum Refugium. Dann kommt aber Ihr «andererseits», die so verheerende, alltägliche Katastrophe dieser Gesellschaft, daß ich aufschreien muß – in einem Vortrag, in einem Artikel. Denken Sie: Der Bundesstaat Texas und Texaner sind keine Herzchen – mußte kürzlich Verträge über die Privatisierung von Gefängnissen aufheben, weil die Gewalt in den Anstalten, die Vernachlässigung und brutale Behandlung der Insassen so himmelschreiende Ausmaße angenommen hatten, daß selbst den Leuten in Texas angst und bange wurde. Oder die Schande in unseren Kliniken, wo Ärzten eine Art Maulkorberlaß verpaßt wurde, damit sie den Patienten nicht sagen, daß es bessere Therapiemethoden, sicherere Diagnosetests gibt. Das könnte zu teuer sein. Es ist kriminell.
    FJR : Mir scheint, ich höre diesen Ton der Erregung auch in Ihrer Prosa, sie hat eine unterschwellige Musik, gar Melodie, mal weit ausschwingend, mal hart und aggressiv. Ist das Absicht, oder unterläuft es Ihnen?
    MORRISON : Ich bin ganz glücklich, daß Sie das heraushören. Tatsächlich bin ich nicht musikalisch, spiele auch kein Instrument. Aber bei uns zu Hause wurde viel Musik gemacht. Meine Mutter hatte eine wundervolle Stimme, die Menschen sangen oder tanzten auf der Straße, alles – ob klassische Musik, Blues oder Jazz – war sehr lebendig bei uns. Und es gibt wohl auch so etwas wie Sprachmelodie, eine Art musikalische Rhythmisierung der Sprache, in der Predigt, im Schreiben. Das habe ich benutzt – das ist übrigens sehr schwer, deshalb vielleicht schreibe ich meine Manuskripte bis zu sechsmal um.
    FJR : Es gibt auch schrille Töne, Dissonanzen; Sie sprechen von diesem «selbstgerechten Blick, den jeder Neger schon mit der Muttermilch zu erkennen lernte. Wie eine gehißte Fahne telegraphierte und verkündigte diese Selbstgerechtigkeit die Rute, die Peitsche, die Faust, die Lüge, schon lange bevor sie für alle sichtbar wurde.» Gibt es Haß bei Ihnen? Haben Erfahrungen – historische oder aktuelle – Ihr Herz bitter, Ihre Seele gallig gemacht?
    MORRISON : Das Eigenartige, das Rätselhafte ist, daß ich eigentlich nicht spreche in meinen Büchern; ich will niemanden belehren, niemandem predigen, weder Haß noch Liebe. Ich will erzählen. Meine Menschen, meine Charaktere müssen sich aus sich, aus der jeweils ihnen eigenen Sprache entwickeln und erklären. Der Leser soll nicht in die Lage des Zuhörers eines Kommentators gebracht werden, sondern er soll eingesogen

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