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Stahlstiche

Stahlstiche

Titel: Stahlstiche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fritz J. Raddatz
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werden von Geschehnissen, aufgesogen von Schicksalen, von Handlungsabläufen. In einem bestimmten Moment des Schreibens bin ich gar nicht da, habe kein Geschlecht, keine Rasse – der Leser soll verhext werden, und ich bin die Hexe. Was natürlich nicht stimmt, und so tauche ich aus dem eigenen Hexenkessel wieder auf. Aber was ich mir stets wünsche, das ist ein Leser, der meinen Faden aufnimmt und selber weiterspinnt.
    FJR : Das berühmte poetische Prinzip: Der letzte Vers eines Gedichts muß im Kopf des Lesers entstehen. Das Gedicht mit dem «fertigen Schluß» ist ein mißlungenes Gedicht.
    MORRISON : Genau so. Ich will eine Dynamik, die sich fortsetzt, ein Gewebe, das nicht fertig ist – sonst ist es Fernsehdramaturgie. Der Leser soll nicht «abschalten» und nicht «zappen» können. Ich bin der Leser. Es ist die Aufgabe – besser: die Dimension – der Kunst, Selbsterfahrenes, Selbsterlittenes aufzuheben in einem neuen Ganzen, nicht lediglich zu belehren, was recht und unrecht ist. Das Geheimnisvolle daran ist, daß nur die Kunst auch politisch wirkt, die das schafft – die obenhin gar nicht politisch zu sein scheint. Wenn Sie mir ein Wortspiel gestatten: Man kann aus Menschen keine Bestien machen; man kann machen, daß sie sich wie Bestien benehmen.
    FJR : Ist es falsch, wenn mir scheint, daß dieses Menschenbild auch den epischen Atem Ihrer Arbeit bedingt, dieses seltsame An- und Abschwellen, den Rhythmuswechsel zwischen Stakkato und Adagio?
    MORRISON : Nein, das ist überhaupt nicht falsch. Ich muß gestehen, daß ich oft anfangs ganz abstrakte Ideen habe – Mutterschaft, Sklaverei, Weiblichkeit; dann bekommen die Figuren ihr Eigenleben, Risse, die ich nicht wollte, sogar Lebensläufe, die ich nicht voraussah: Bilder lösen die Ideen ab. Ich will mich nicht vergleichen – aber so hat Whitman geschrieben, so hat Faulkner geschrieben, das ist der reißende Strom namens «Howl» von Allen Ginsberg.
    FJR : Interessant, daß Sie lauter amerikanische Autoren nennen – so, als wollten Sie Ihrem Satz: «Ich bin keine amerikanische Schriftstellerin» jetzt entgegensetzen: «Doch, ich bin so amerikanisch wie …»
    MORRISON : Aber gewiß bin ich in vielem ganz wesentlich amerikanisch – wenn Sie mir erlauben hinzuzufügen: Das afroamerikanische Element ist eine prägende Substanz Amerikas, seiner Modernität. Es ist beispielsweise nicht so, als gäbe es den Jazz erst, seit Scott Fitzgerald ihn schick gemacht hat und er aus Paris und Berlin rückimportiert wurde. Das war unsere Musik, als man sie noch als niedrig, dumm, unmusikalisch und primitiv verdammte. Und so ist mein Puls, meine Sprache, meine Tonalität, mein Gang und mein Haar Teil Amerikas. Aber wir sind auch Teil seiner Modernität, weil wir Ware waren, gekauft, versteigert, gewogen, weggeworfen (will sagen: erschlagen), wenn unnütz. Amerikas Industrialisierung hätte es ohne uns nicht gegeben – ohne schwarze Schwellenleger der Eisenbahn, ohne schwarze Sklavinnen in den Baumwollfeldern; ohne die vergewaltigten Frauen, die jungen Männer mit Mauleisen und die alten Männer ohne Namen. Wenn ich meinen Roman «Menschenkind» jenen «sechzig Millionen und mehr» gewidmet habe, dann ist das eher eine Untertreibung; es gibt Historiker, die von 300  Millionen ermordeter Schwarzer sprechen. Es gab breite Flüsse in Afrika, über die man mühelos zu Fuß gehen konnte – die «Balken» waren die Leichen der ermordeten Schwarzen.
    FJR : Würden Sie Ihre Bücher nur noch in einem «schwarzen» Verlag, was immer das sein mag, verlegen wollen, nur in «schwarzen» Zeitungen von «schwarzen» Kritikern rezensiert sehen wollen?
    MORRISON : Ich nicht. Andere – Kollegen von mir – haben es getan und tun es. Wir waren nie Teil der Institution, immer draußen. Wir sind im Krieg; überreden hilft da nicht. Durch gutes Zureden hätte England wohl kaum seine Kolonien aufgegeben. Die Kolonisatoren unserer Zeit heißen Ted Turner oder «Time Magazine» oder Wall Street – ohne Kampf geben die nichts her. Vermutlich wissen Sie nicht, was es heißt, ein Staatsbürger zweiter Klasse zu sein, weil Sie es einfach nicht sind. Ich weiß es: Seit ich als kleines Kind nicht in einem «amerikanischen» See baden durfte, seit man mir als jungem Mädchen sagte: «Was, studieren willst du? Lerne tippen.» Nun habe ich statt dessen schreiben gelernt. Aber es wird niemand meine Literatur verstehen, der nicht versteht, aus welch anderem Humus sie wuchs als die

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