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Stahlstiche

Stahlstiche

Titel: Stahlstiche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fritz J. Raddatz
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kann in einem Boden verankert sein, dessen Schlamm man zugleich verachtet. Derlei wird gelegentlich von morsch und klebrig gewordenen alten Ehen gesagt. Ein desaströses Beispiel dafür wäre der intelligente Chefdramaturg des Berliner Ensembles, Joachim Tenschert, nicht Parteizwerg noch Dumpfbacke. Ich kannte ihn gut, wußte von seinem Widerstreben, davon er in verwunderter Offenheit sprach, wenn er mich – da lebte ich bereits in Hamburg – gelegentlich besuchte. Doch er nahm sich 1989 das Leben; das schien ihm nicht mehr vorstellbar, nicht mehr wert in einer so gänzlich anders strukturierten Gesellschaft.
    So war meine Trennung tatsächlich, so unlogisch kann Leben sein, Schmerz; obwohl ich doch eingesehen hatte, daß ich so und dort nicht mehr leben, nicht mehr arbeiten mochte – nicht mehr Feigenblatt sein wollte für eine zunehmend fletschende Diktatur. Denn ohne Umschweife: Das Feigenblatt war ich acht Jahre hindurch gewesen, kein «Ich nicht» darf mir da über die Lippen kommen und kein «Ich war so jung und glaubte …». Zum einen ist man mit Mitte Zwanzig nicht mehr «so jung», zum anderen war ich nicht gläubig gewesen, vielmehr den steten Zweifel immer erneut niederringend. Ich war kein Anderer.
    Da ist ein Begriff gefallen, der Klärung vielleicht dienlich: Arbeit. Bis ins nun hohe Alter habe ich mir – als Lektion der DDR -Jahre – die so ganz andere Auffassung von Arbeit bewahrt, als sie gemeinhin im Westen gültig ist. «Good job», was der amerikanische Präsident zu der berühmten Violinistin Julia Fischer in Heiligendamm sagte, wäre einem als schulterklopfendes Lob für David Oistrach wohl kaum eingefallen. Arbeit hatte «dort» eine andere Bedeutung, Job war unbekannt. Das ist ein Verdeutlichungsmuster. Es darf indes kein Blümchen-Muster auf freundlich bepinselten Soufitten sein, die vor den Mißbrauch mit Namen Arbeitslager gezogen werden, auch Gulag genannt. Ich wurde nicht mißbraucht. Ich habe mich selber mißbraucht.
    DIE ZEIT , 16 .  8 .  2007

Deutschland, bleiche Mutter
    Ein Plädoyer für die deutsche Einheit
    O ihr Mückensänger und Kamelverschlucker … die ihr nichts tut.
    CHRISTOPH MARTIN WIELAND , «Unparteiische Betrachtungen über die dermalige Staats-Revolution in Frankreich»
    Solschenizyn wird in der Sowjetunion gedruckt, Ausbürgerung und Ausschluß aus dem Schriftstellerverband werden rückgängig gemacht; Kopelew hält in Moskau Vorträge wie Kolakowski in Warschau; Ashkenazy und Rostropowitsch spielen in der Heimat, während Hunderttausende in Budapest dem ermordeten Imre Nagy das Ehrengeleit geben, dessen «Konterrevolution» nun vom ungarischen ZK -Chef offiziell zum «Volksaufstand» erhoben wird – folgerichtig schneiden ein ungarischer und ein österreichischer Minister die Stacheldraht«mauer» an der gemeinsamen Grenze durch; Sacharow reist durch die USA und kritisiert so vehement wie ungeahndet im sowjetischen Parlament seinen Staats-Chef; der knapp der Einkerkerung entronnene Wałeşa bestimmt die polnische Regierungsbildung; in Ostberlin wird Thomas Brasch aufgeführt, Günter Kunert gedruckt, Uwe Johnson verlegt, und Hans Mayer hält einen Vortrag – sein Text und ein Interview mit Brasch, warum er die DDR verließ, werden in «Sinn und Form» publiziert:
    Keiner unserer Politiker hat derlei vor kurzem noch für möglich gehalten. Keiner von ihnen auch hat es bewirkt. Sie haben – mehr oder weniger schlecht – das Machbare verwaltet. Nie haben sie das Undenkbare gedacht. Es sind aber die Träumer, die die Welt verändern – heißen sie Rousseau oder Lech Wałeşa. Daß der DDR - PEN -Club gegen die Verhaftung Václav Havels protestiert hat, wiegt schwerer als eine Bürgschaft namens Hermes. Unsere Sachwalter kennen solche Namen immer nur als Kreditgrundlage. Politiker, die nicht träumen können, verändern nichts. Man mag das auch Vision nennen.
    Ich lehne es ab, mir von diesen Leuten, die nicht einmal in Sachen Wackersdorf richtig disponieren können, ein Utopie-Verbot auferlegen zu lassen. Es ist ja nicht wahr, daß Geschichte von den Machern, den «Real-Politikern» vorangetrieben wurde. Hinter dieser These verbirgt sich jene «Ich gehe davon aus»-Denkfaulheit und Herzensträgheit, die gut für Milchpfennig, Abgaswerte und EG -Hühnerkeulenquotenregelung sein mag. Respekt. Aber wer im 18 . Jahrhundert das erste Mal das Wort «Republik» dachte, wer in den – wie eigentlich? nicht vielleicht durch eine Revolution? – jung

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