Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Stahlstiche

Stahlstiche

Titel: Stahlstiche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fritz J. Raddatz
Vom Netzwerk:
Goldstein aus dem 3 . Stock zusteckte, als die «eigentlich ganz nette Familie verreisen» mußte? Wäre nicht, als man vom Klappentext «meiner» Majakowski-Ausgabe dessen Selbstmord eliminierte, die passende Gelegenheit gewesen, lautstark auf einer Verlagskonferenz von anderen Toden zu künden? Was war das doch für ein krummer Mut, als ich im Seminar 1953 bei einer Gedenkminute – «Wir erheben uns alle in Trauer um den Tod des großen Führers der Sowjetunion Josef Stalin» – ostentativ sitzen blieb? Oder als ich mich während einer Ungarnreise 1954  – «und jetzt besichtigen wir das große Stalin-Denkmal» – weigerte, den Bus zu verlassen mit den Worten «Ich will den Massenmörder nicht sehen»? Das ist doch alles Marianne-Hoppe-Hoppelei, die nie mitgesungen haben will beim Horst-Wessel-Lied; «wir dachten nur an die Kunst». In Parenthese: Bitte keinen abermaligen Aufguß der Historiker-Debatte; ich kenne den Unterschied beider Diktaturen. Wobei allerdings jene Debatte an einem semantischen Mißverständnis krankte: Vergleichen bedeutet nicht gleichsetzen. Man kann sehr wohl die berüchtigten Äpfel mit Birnen vergleichen, sogar das Finnische mit Kisuaheli – eben um herauszufinden, daß sie sich unterscheiden. Ich dachte keineswegs «nur an die Kunst» – wiewohl ich ein besessener Verlagsmensch war, dem der kleinste Gedichtband so viel Entzücken und Befriedigung brachte wie die vielbändige Ausgabe von Roger Martin du Gards Roman fleuve «Die Thibaults».
    Zugegeben, die Mund-Situation war ein Extrem. Er zumindest wäre ja «aufgeflogen», hätte ich in RIAS -Mikrophone geplärrt (Mund konnte sich Jahre später nur wenige Minuten vor seiner Verhaftung durch Flucht in den Westen retten). Das Extrem allerdings quälte mich hinreichend; man darf es getrost Gewissensnot nennen. Weil ich in dieser Not nicht mehr ein noch aus wußte, besuchte ich Margret Boveri in ihrem Haus in Dahlem, Rat suchend. In meinem Fall indes verhielt sich diese hochintelligente Frau stupend töricht. Sie ermunterte mich, zur Stasi zu gehen und dort meine Dienste anzubieten, denn «man kann den Apparat nur von innen verändern». Man stelle sich vor, ich wäre diesem leichtfertigen Rat gefolgt! Ein Leben lang ein Gebrandmarkter wäre ich gewesen.
    Doch an welcher Grenzlinie schlingerte ich entlang? Jene später von mir Interviewten – auch der jugoslawische Kunstschriftsteller Oto Bihalji-Merin – hatten sich unter meinen bohrenden Fragen immer hinter eine Festungsmauer zurückgezogen, die schlecht zu zernieren war: «der Glaube»; sie hatten an den Kommunismus, an die Sowjetunion, an Stalin «geglaubt» – Irrationalismus der Ratio. Ich aber hatte gar nie diesen rettenden Glauben, war auch nicht Kommunist; ehestens ein Literat, der das Soziologische durchaus einbezog in die Kunstbemessung. Marxist? Selbst das wäre wohl eine zu volltönende Bezeichnung, dazu hatte ich zu wenig Marx (oder Trotzki oder Rosa Luxemburg) gelesen mit 22 oder 25  Jahren. Was also war ich?
    Es bietet sich ein Erklärungsmodell an, das ich von dem großartigen Interpreten Rüdiger Safranski entleihe. Der hat zum 60 . Geburtstag von Peter Sloterdijk den Kern von dessen Gedanken von der
conditio humana
freigelegt, der zufolge der Mensch – vom Mutterleibe an – ein Wesen ist, das von innen kommt, folglich unvermeidlich seine späteren Lebensräume zu Innenräumen ausgestaltet; deswegen bedeutet Erwachsenwerden «Sphären zu bilden in erweiterten Kreisen, in Familien, Bünden, Beziehungen, Betrieben, Subkulturen, Nationen». Das könnte durchaus zutreffen für jemanden – mich –, der den Horror der letzten Kriegsjahre unbehütet, mit 13 , 14  Jahren, erlebt hat, der mit 15 ohne Eltern oder Verwandte in das Chaos der ersten Nachkriegsjahre gestürzt wurde – also zwangsläufig versucht war, «Lebensräume zu Innenräumen auszugestalten».
    Allein, diese Leiter in hohe Sphären ist zu glitschig, die Wahrheit glitte durch die Sprossen. Es war gewiß viel banaler. Ich war gewiß vor allem ungestüm. Es mag schon damals jenes Ungestüm gewesen sein, ohne Rücksicht auf Tabus, das Jahrzehnte später der ZEIT -Verleger Bucerius anfangs an mir bewunderte und ihn dann zornig abstieß; «wie ein wildes Tier betrat Raddatz den Journalisten-Zoo», erinnerte sich seine Lebensgefährtin Hilde von Lang an meinen Eintritt 1977 in die ZEIT -Redaktion.
    Das lag noch lange vor mir. «Wild» aber muß ich auch in den DDR -Jahren gewesen sein, kaum

Weitere Kostenlose Bücher