Stahlstiche
einmal aber «Treulosigkeit» heißt; was bedeutet, daß der Mensch – leider – auch frei ist, sich selbst gegenüber treulos zu sein oder zu werden: die falsche Freiheit. Im Sartreschen – oft bis zur Unlesbarkeit von Heidegger beeinflußten – Sprachgebrauch heißt das «Geworfenheit». Sartres These, der Mensch ist nur Mensch, soweit er ein Bewußtsein von sich hat und aus diesem Bewußtsein ethisches Handeln ableitet, ist zwiespältig, um nicht zu sagen widersinnig; denn «Handeln» ist nicht ethisch
per se
. Insofern hat Sartre eine grundsätzliche Antinomie nie auflösen können: die
Freiheit von
läßt sich noch definieren und bis zum modischen Mißverständnis leben – Freiheit von Zwang, von Gewalt, von Gehorsam, von Unrecht, oft begangen oder geduldet. Daraus nährte sich die rasende Feier des epidemisch geschminkten Existentialismus in Tanzkellern, auf Chansonbühnen und im Theaterparkett. Aber Freiheit wozu? Wohin? Die Antwort darauf verweigert sein mäanderndes Werk und sein gelegentlich durchaus schlingerndes Leben. Freiheit auch zum Mord, wie sein bald von ihm selber verbotenes Stück «Die schmutzigen Hände» anheimstellte? Freiheit zum Leugnen des Gulag, wie sein mesquiner Essay-Überfall auf den einstigen Gefährten Albert Camus sie feilbot? Freiheit zum gedankenlos-bedenkenlosen Besuch der deutschen RAF -Gefangenen in Stammheim, an der Nase herumgeführt von dubiosen Anwälten? Manchmal erinnern diese und andere Irrläufe des großen Schriftstellers an Max Webers frivoles Wort, dem zufolge ein Wegweiser ja auch nicht den Weg beschreitet, dessen Richtung er angibt. Das erinnert aber auch an die verblüffendsten Inkonsequenzen des Kirchen- und Armee-Hassers Voltaire, der sein riesiges Vermögen mit der Lieferung von Uniformstoffen an alle erdenklichen Armeen gemacht hatte – und bedenkenlos zu ernormem Zins Geld an die bekämpften Fürsten auslieh: nicht zuletzt an jenen Herzog Karl Eugen für seine protzsüchtige Hofhaltung, die Schiller floh. War Sartre also der Voltaire seiner Zeit?
Wir alle kennen de Gaulles majestätisch-herablassendes Wort auf schrille Attacken unseres
Maître penseur
«On n’arrête pas Voltaire»; einen Voltaire verhaftet man nicht. Da war Sartres
élan vital
noch nicht gebrochen. Zum Ende seines Lebens, viele Jahre, war jedoch der, der uns sehend gemacht hatte, ein blindes Wrack, verarmt; er mußte gar diskret (und übrigens vergebens) in Stockholm eruieren lassen, ob man ihm nicht ohne Aufsehen den Geldbetrag des 1965 hochmütig abgelehnten Nobelpreises zukommen lassen könne. Fast liest sich ein überlieferter Satz Jean-Paul Sartres wie eine Antwort auf de Gaulle: «Wir gehen umsonst zugrunde, der Mensch ist eine nutzlose Passion.»
«Welt am Sonntag», 19 . 5 . 2005
Höllenritt und Totentanz
Jean-Paul Sartre über Gustave Flaubert
Kein Buch – ein Tunnelsystem. Keine Biographie – eine Selbstdarstellung: Dies ist Jean-Paul Sartres wahre Autobiographie. «Die Wörter» scheinen dagegen Fingerübungen. Eingezeckt, verschraubt, unterbohrt, hineingekrochen fast wie ein Parasit, der den Stamm tötet und aushöhlt, um phantastische Blüten hervorzusaugen, von denen man nicht weiß, blüht der Baum wieder, oder sind es die Phantasieblumen des bösen Ausbeuters – was hier vorliegt, ist eine der grandiosesten Interpretationsleistungen der Weltliteratur, ein Meisterwerk: «Der Idiot der Familie, Gustave Flaubert 1821 bis 1857 ». Mit nahezu zwanghafter Besessenheit hat Sartre Jahre seines Lebens diesem Buch gewidmet, hat es
gegen den Vorwurf
überflüssiger, ästhetisierender Spielerei verteidigt und sich verwahrt vor dem Ansinnen, nur mehr protestierender Zeitgenosse zu sein: «Ich mußte dieses Buch schreiben»; denn mehr als alle Versammlungsreden, Straßenverkäufe von Pamphleten und Aufrufe ist dies eine Standortbestimmung. Eine der Literatur. Es ist nicht die Rede von einer Person, einem Genie (das auch). Es ist vielmehr der Versuch, die «Entstehung eines Genies» begreifbar zu machen – und damit das Entstehen von Kunst.
Die Urverletzung Flauberts war Liebesentzug. Aufgewachsen in einer Familie, deren Vater in ihm nur eine «Fabrikationsmarke» sah und deren Mutter «mehr blutschänderische Tochter als Mutter war; zwischen ihr und ihren Söhnen war nichts», herangezüchtet also eher, entschied sich das Kind Gustave bereits zur Verweigerung. Es funktioniert nicht, um sein Ich zu retten vor jener bürgerlichen Kleinfabrik, die sich Familie
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