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Stahlstiche

Stahlstiche

Titel: Stahlstiche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fritz J. Raddatz
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Geiste des Sigmund Freud, der ebenjene tiefe Verklammerung von Libido, Aggressivität und Narzißmus erstmals benannte in seiner Theorie vom Über-Ich, das «sich zu Zwecken der Hilfeleistung selbst mit Libido erfüllen muß, dadurch selbst Vertreter des Eros wird und nun leben und geliebt werden will». Sartre hat die Kühnheit einer Synthese gewagt aus den Gedankengebäuden der beiden überragenden Denker; er hat einen gezeigt, der war Narziß, Onanist, Autist – und ein genialer Künstler. Er hat ihn ent-deckt als Antwort auf den eigenen Satz: «Wer schreibt, versteckt sich.»
    DIE ZEIT , 9 / 25 .  2 .  1977

Theologe des Verbrechens
    Zum Tod von Jean Genet
    Ich gelange zur Liebe, wie man ins Wasser tritt, die Hände voraus, blind, meine zurückgehaltenen Seufzer erfüllen deine Gegenwart in mir mit Luft, in mir, wo deine Gegenwart schwer ist. Ewig. Ich liebe dich … Stirb von meinen Händen. Stirb unter meinen Augen.
    JEAN GENET , «Der Fischer von Suquet»
    «Dieb! Du bist ein Dieb!» – Dieser Aufschrei seines Pflegevaters bestimmte das weitere Leben des damals zehnjährigen Findelkindes, ausgesetzt von unbekannten Eltern und von nun an bis an das Ende seines Lebens außerhalb der Gesellschaft lebend. Der französische Essayist Bertrand Poirot-Delpech faßte es in die frappante Formel: «Wie andere Kinder in diesem Alter sich vornehmen, Gitarrespieler oder Astronaut zu werden, so beschloß der zehnjährige Genet: ‹Ich werde Dieb.›»
    Diese absurde Volte wurde zur Revolte des Jean Genet – der wir eine der schönsten und kompliziertesten Kunstleistungen der modernen Weltliteratur zu danken haben. Der Entschluß, Verbrecher zu werden, machte ihn zum Theologen des Verbrechens; seine Himmel waren die schwarzen Pfützen und seine Heiligen die Mörder, Huren, Schwulen. Sein Weihrauch die Giftdünste der Pissoirs. Genets Exerzitien sind Räusche und seine Gebete Verdammungen. Aber die erotischen Erniedrigungen des Päderasten und professionellen Risiken des Diebes haben (wie es Sartre formuliert) den Nimbus einer heiligen Aura.
    Was ist geschehen mit einem Menschen, und wie wurde sein Schicksal Kunst? Jean-Paul Sartre hat es zu Beginn seines Tausend-Seiten-Essays «Saint Genet, Komödiant und Märtyrer» rhapsodisch gefaßt:
    Es gab früher in Böhmen eine blühende Industrie, die eingegangen zu sein scheint: Man nahm Kinder, schlitzte ihnen die Lippen auf, preßte ihnen die Schädel zusammen und setzte sie Tag und Nacht in eine Kiste, um ihr Wachstum zu verhindern. Durch diese und ähnliche Behandlungen machte man aus ihnen sehr amüsante und höchst einträgliche Mißgeburten. Um Genet zu machen, hat man ein subtileres Verfahren benutzt, aber das Ergebnis ist das Gleiche: Man hat ein Kind genommen und aus Gründen des sozialen Nutzens eine Mißgeburt daraus gemacht.
    Die Wirklichkeit war eher etwas nüchterner: der 1910 in Paris Geborene verbrachte die ersten sechs Jahre seines Lebens in einem Waisenhaus, wurde dann von einer Bauernfamilie aufgenommen und landete mit 16  Jahren nach verschiedenen kleinen Diebstählen in der Besserungsanstalt Mettray. 1929 floh er in die Fremdenlegion, desertierte, und seit 1930 streunte er im Zuhälter- und Strichjungenmilieu durch Europa – mal im Marseiller Hafen, mal im Chinesenviertel von Barcelona. Zwischen 1937 und 1943 wurde er aus fünf europäischen Ländern ausgewiesen und vierzehnmal eingesperrt. 1942 entsteht das erste Gedicht des zu lebenslänglicher Haft Verurteilten, das er seinem Freund Maurice Pilorge widmet, dem «zum Tode Verurteilten» (der seinen Geliebten ermordet hatte, um ihm knapp tausend Francs zu stehlen):
    Ehrenkind so schön und fliederbekränzt!
    Neige dich über mein Bett, laß meinen steigenden Schwanz
    deine goldne Wange schlagen, höher, er erzählt dir,
    dein Liebhaber, der Mörder, glanzvoll von seiner Heldentat.
    Hier schon sind alle Themen Genets vereint: die Feier von Mord und Homosexualität, die Dialektik zwischen Tod und Schönheit, die Umkehrung der Rolle von Täter und Opfer (und ihre heimliche Komplizenschaft). Es ist Jean Cocteau, der ihn bereits 1943 «den ersten Schriftsteller des Jahrhunderts» nennt; Jean-Paul Sartre vergleicht den 1944 erschienenen Roman «Notre Dame des Fleurs» mit dem «Ulysses» von Joyce. Das Buch ist eine schwarze Messe zur Verherrlichung des «ewigen Paares des Verbrechers und des Heiligen», dessen Hauptfigur Culafroy (!) zur Divine wird, die «große Perverse» also zur Heiligen, die Lust

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