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Stahlstiche

Stahlstiche

Titel: Stahlstiche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fritz J. Raddatz
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Zigaretten; auch da den Meister, der bekanntlich mindestens vier Päckchen pro Tag konsumierte, im Mißverständnis kopierend. Einer seiner wohl berühmtesten Sätze – «Die Hölle, das sind die Anderen» aus dem zehn Tage vor der alliierten Landung in der Normandie uraufgeführten Stück «Bei geschlossenen Türen» – führte zu einer rasenden Lust des Sich-Auslebens, wie es die rasch zum Idol gekürte blutjunge Erfolgsautorin Françoise Sagan in ihren barfuß gefahrenen Aston-Martin-Cabrios an der Côte d’Azur vorlebte.
    Gewiß, politische Umwälzungen haben oft ihren Niederschlag in der Literatur gefunden – etwa die hymnischen Oden, mit denen Klopstock die Französische Revolution begrüßte; wie sie bis in die Banalität der Alltäglichkeit eindrangen – von den Sansculottes über die als Modeschmuck getragene Kokarde bis zum hochstehenden Kragen jener neu-aristokratischen oder bourgeoisen postrevolutionären
Jeunesse d’orée
, die ja zeigen sollte, der Hals ist nicht mehr frei für die Guillotine.
    Doch der gravierende Unterschied besteht darin, daß die Aufklärung beispielsweise – auch wenn ihre Protagonisten Rousseau und Voltaire einander spinnefeind waren – ein Ensemble von Gedanken und Denkern bildete; der Raum dieses Artikels reicht nicht, die vielen Theorieströme, von D’Alembert über Condorcet zu Camille Desmoulins, nachzukartographieren, die sich da vereinigten (und sich in den eigenen Wogen ertränkten).
    Ganz anders hier. Es war ein einziger, einzelner Mensch, der die neuen – meist unbegriffenen – Horizonte aufspannte. Ein gedrungener, häßlicher, schielender Kleinbürger, die Taschen zwar bald so prall mit großen Geldscheinen vollgestopft und derart unmäßige Trinkgelder verteilend, daß die Geschäftsführer von ihm besuchter Restaurants gelegentlich Simone de Beauvoir diskret deswegen warnten. Er lebte das einst von Picasso verkündete Ideal «zu leben wie ein armer Mann, der ganz viel Geld hat». Doch Sartre war kein Parvenu, er aß in zweitklassigen Restaurants wie La Coupole oder Brasserie Lipp, er saß tagaus, tagein in dem mickrigen Café Flore am Boulevard Saint-Germain – und schrieb, schrieb, schrieb. Er führte auch privatim ein eher klägliches, leicht unappetitliches Leben mit fast immer kurzfristig herbeikommandierten jungen Damen, die Simone de Beauvoir ihm «besorgte», nicht selten die Zugeführten vorher ausprobierend; in den zahlreichen Biographien, die ihm inzwischen gewidmet wurden, wird er als «schlechter Liebhaber» charakterisiert. Ein im ganzen eher kleines Leben in bescheidenen Mietwohnungen – denkt man an die schloßartigen Besitzungen von Sacha Guitry oder Maurice Maeterlinck in Nizza. Also keine Schlösser an der Loire.
    Und schrieb und schrieb und schrieb. Es ist der wohl einmalige Vorgang, daß ein Mensch – selber wortsüchtig, wie er es so wunderbar in seiner Autobiographie «Die Wörter» aufgedeckt hat – mit Worten, mit Philosophie, mit Literatur Feuer in den Köpfen der Menschen entzünden konnte; bis zum heutigen Tage, da vor einer großen Pariser Sartre-Ausstellung Menschenschlangen sich ballen. Das war von jeher sein Literaturbegriff und seine Ambition, schon jener Vortrag des Jahres 1945 avancierte umgehend zur «Existentialistenbibel», die Broschüre wurde hunderttausendmal gedruckt und in 18 Sprachen übersetzt. Hans-Martin Schönherr-Mann zitiert die Sartre-Biographin Annie Cohen-Solal mit einem Satz über diesen frühen Anfang: «Eine ganze Jugend bewegt sich auf ihn zu: Sie ist von seiner Radikalität, der permanenten Überschreitung von Konventionen, vom Caféleben, von der Transparenz, dem Außenseitertum, das den Bourgeois schockiert, einfach hingerissen.»
    In diesem Sinne – daher der Begriff
littérature engagée
 – hat Sartre stets den Schriftsteller begriffen: und den Leser. Die Beziehung zwischen beiden verstand er als eine dialektische: die Möglichkeit, unsere Welt anders zu sehen, kritisch, die schafft der Künstler; damit ist Lesen ein schöpferischer, handelnder, zum Engagement führender – zwingender? – Vorgang. In seinem berühmt gewordenen Essay des Jahres 1964 «Was kann Literatur?» sagt er das ganz deutlich: «Der Autor schreibt eine Partitur, aber erst der Leser wird dieses Konzertstück aufführen; was der Autor hier macht, entgeht ihm immer, während der, der das Buch nimmt, es nicht kennt, jeden Satz als eine neue Erfahrung aufnimmt und ihn folglich in seiner konkreten Wahrheit

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