Stahlstiche
Wenn Flaubert «ich» sagt, lügt er. Spielt. Arrangiert. «Wenn er die Wahrheit sagt», heißt es bei Sartre, «so geschieht das ohne sein Wissen.» Wahr ist er nur in einer fremden Figur. Deshalb heißt der berühmte Satz nicht: «Je suis Madame Bovary», sondern: «Madame Bovary, c’est moi.»
Flaubert ist aufrichtig, wenn er vegetativ bleibt – also eine andere Identität annimmt; erfundene Geschichten verlassen keinen Augenblick den Bereich des Wahren – aber spricht Flaubert von sich, so wird er der Tintenstrom des Tintenfisches sein, wie Sartre es in einem eindringlichen Bild zusammenfaßt. Es gibt Menschen, die lügen nicht – aber sie sind eine Lüge;
es
sind meist Artisten. Sie täuschen auch im Äußeren (man erinnert sich solcher Figuren aus dem Werk Thomas Manns, ihrer eau-de-cologne-duftenden Korrektheit als
Camouflage
der «feuchten Stelle»); lärmende Spaßvögel, deren Lustigkeit nur mehr eine gesteuerte Nervenkrise ist. Keine bevorzugte Schwindelei, sondern «Abwehr gegenüber den Menschen». Es ist ebendiese Verlarvung, die sie produzieren macht: je intensiver die Verletzung, desto verwinkelter der Kunstbau. Das ist das Zentrum der gesamten ästhetischen Theorie von Jean-Paul Sartre. Bereits in seiner Untersuchung über das «Imaginäre» hat er über den Gegensatz des Realen und des Kunstschönen reflektiert und eine Summe gezogen: «Deshalb ist es einfältig, Moral und Ästhetik zu vermischen.»
Sartre hat denselben Gedanken immer und immer wieder paraphrasiert, am einleuchtendsten wohl bei Untersuchungen zur bildenden Kunst: Real sind die Ergebnisse der Pinselstriche oder die Einfärbung der Leinwand oder ihre Körnung; gerade das aber ist nicht Gegenstand ästhetischer Wertung, und nicht zufällig kommt Sartre beim Einkreisen des Problems des Schönen, des Scheins und ihrer Beziehung zur Wirklichkeit in seinem Œuvre stets auf zweierlei zurück, gleichsam in einem ständigen Versprechen über Jahre hinweg, das er nun mit dem «Idiot der Familie» eingelöst hat: Sprache und Gustave Flaubert.
Eines der Hauptkapitel seines philosophischen Werkes «Das Sein und das Nichts» behandelt als «Die konkreten Beziehungen zu Anderen» Liebe, Sprache und Masochismus. Womit wir bei Flaubert wären. Dessen Kunstbau als Kommunikationsersatz mit den Anderen erwächst ja aus Liebesverlust, Sprach-Verweigerung und Auto-Sadismus. Und eben deswegen hat Sartre wiederum den Hauptteil seiner Untersuchung «Question de méthode» (die im Deutschen leicht irreführend «Marxismus und Existentialismus» heißt) Flaubert gewidmet. Diese fünf Flaubert-Analysen des Jahres 1960 sind die Keimzelle des nun (fragmentarisch) vorliegenden Buches, die Skizze des Freskos. Der Beginn gibt bereits die Zielvorstellung: «Der zeitgenössische Marxismus weist beispielsweise nach, daß der Realismus Flauberts in symbolisierender Wechselbeziehung zur sozialen und politischen Entwicklung des Kleinbürgertums des
Second Empire
steht. Niemals aber zeigt er die Entstehung dieser Wechselseitigkeit der Perspektiven auf … Der Marxismus gliedert ein, aber er entdeckt sonst weiter nichts.»
Sartre geht auf genau jenes Problem ein, das mit dem Wort «Ungleichzeitigkeit» angedeutet sein sollte: daß nämlich ein Kunstwerk – etwa «Madame Bovary» – seiner Zeit
voraus
zu sein scheint, weil es hinter ihr
zurück
ist, «weil sein Werk unter einer Maske einer von der Romantik angeekelten Generation die nachromantische Verzweiflung eines Schülers von 1830 ausdrückt». Der objektive Sinn des Buches ist nicht lediglich, wie Marxisten es gern begreifen, durch die Zeitumstände des Autors bedingt. Das reduziert den Menschen auf den Erwachsenen – als kämen wir erst an dem Tage auf die Welt, an dem wir unser erstes eigenes Geld verdienen. Es wäre der Ersatz von Natur durch Geschichte. Selbstentfremdung, Verdinglichung, Ekel, Haß und Selbstwertverlust aber erlebt schon das Kind.
Der Kreis schließt sich. Sartres Methode der Zergliederung einer Persönlichkeit ist gleichzeitig eine hochpolitische. Seine Erzählung «Kindheit eines Chefs», ohne Polit-Poster zu sein, war die Analyse des Faschismus. Sein Flaubert-Tableau, Genuß bereitend (auch in der meisterlichen Übersetzung) wie ein großer Entwicklungsroman, ist die radikalste Analyse des Bürgertums; und seiner Kunstproduktion. Radikal im Sinne von Karl Marx: «Radikal sein heißt, die Dinge an der Wurzel fassen; die Wurzel der Dinge aber ist der Mensch.» Radikal ebenso im
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