Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Stalingrad - Die Einsamkeit vor dem Sterben

Stalingrad - Die Einsamkeit vor dem Sterben

Titel: Stalingrad - Die Einsamkeit vor dem Sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Fromm
Vom Netzwerk:
herumgehen.
    »Genießt die Friedenspfeife«, sagte Musk. Seine Finger fuhren über das bereits gefrorene Blut einer Splitterverletzung. »Die Kälte ist ein vorzüglicher Medizinmann, was, Otto? Der scharfsinnigste Naturzustand. Hättest du es so ausgedrückt?«
    »Leck mich am Arsch«, murmelte Gross.
    Musk lachte. Die widerspenstigsten Söhne waren einem trotz allem die liebsten. Und oft die besten. Mit dem Großmut des Erfolgreichen musterte er die Kämpferelite, die vier Monate Stalingrad aus seiner Einheit herausgeschmolzen hatte.
    »So, Männer«, sagte er dann, und seine Stimme klang wie bei der Ausgabe eines beliebigen Tagesbe fehls. »Hinter uns ist eine Riegelstellung aufgebaut worden, für den Fall, dass es der Russe noch mal versuchen sollte. Aber für uns ist der Kampf in Stalingrad zu Ende.«
    Die Männer glotzten ihn ungläubig an. Natür lich hatte er es versprochen, aber man hatte ihnen schon so viel versprochen und nichts davon gehalten. War es wahr? War es wirklich wahr?
    Musk ließ seinen Blick noch einm al über das Schlachtfeld schweifen. Je härter der Kampf gewesen war, desto schwerer fiel ihm der Abschied. Und diesmal fiel er ihm besonders schwer.
    »Ab zur Sammelstelle!«, rief er. »Die Pak nehmen wir mit. Als Talisman.«
    »Und wo ist die Zugmaschine?«, fragte Bubi.
    »Die Zugmaschine sind wir«, sagte Gross. »Wie immer.«

 
     
     
     
     
     
    55
     
     
    B is zur Sammelstelle waren es fünf Kilometer. Sie brauchten über sechs Stunden. Die anderthalb Tonnen schwere Pak wurde im Mannschaftszug mühsam über die schneeverwehte Straße geschleppt. Eine elende Schinderei! Der Schweiß gefror ihnen auf der Stirn und im Haar, ihre mit Streifen von Zeltbahnen umwickelten Stiefel rutschten immer wieder auf dem glatten Untergrund aus.
    Aber das war alles nicht mehr so wichtig, es ging weg von der Front, vielleicht sogar bald wieder in die Heimat, und dafür hätten sie die Kanone bis ans Ende der Welt geschleppt.
    Hauptmann Musk ging voraus. Trotz des Schneesturms hielt er sich aufrecht. Rollo versuchte, sich ein Beispiel an ihm zu nehmen. Er verdankte dem Hauptmann alles. Der Hauptmann hatte ihn wieder zu einem vollwertigen Mitglied der menschlichen Gesellschaft gemacht. Er hatte gut gekämpft, er hatte überlebt, und er war mit Sicherheit der einzige Soldat in Stalingrad, der Brandblasen an den Füßen hatte.
    Der Sammelplatz sah aus der Fe rne wie ein gewaltiger Fahrzeugfriedhof aus, und auch aus der Nähe machten die meisten Gefährte keinen besonders vertrauenerweckenden Eindruck. Der Zustand der Soldaten war nicht viel besser. Kolonnenweise schlichen sie an den verrostenden Wracks vorbei. Im Vergleich zu den Frontschweinen sahen sie trotzdem relativ gepflegt und gut genährt aus. Kaum einer von ihnen trug eine Waffe. Sie kamen fast ausschließlich aus der Etappe. Die wenigsten hatten seit der Grundausbildung ein Gewehr in der Hand gehalten. Viele hatten noch nie einen Toten gesehen. Für sie war der Krieg bisher eine mehr oder weniger abwechslungsreiche Fortsetzung ihres Zivilberufes gewesen; sie hatten Kleider gewaschen, Schuhe sortiert, Motoren repariert, Brot gebacken, schlimmstenfalls Pferde geschlachtet. Sie waren brav und ordentlich, solange sie nüchtern waren, sie hatten Heimweh im Herzen und russische Küchengehilfinnen im Bett, sie liebten Pilsener Urquell und einen deftigen Sonntagsbraten; sie hatten sich nichts vorzuwerfen.
    Und sie konnten noch immer nicht verstehen, wieso dieser Krieg auf einmal seine Todesklauen na ch ihnen ausgestreckt hatte. Erstaunt und mit einer Mischung aus Widerwillen und Respekt wurden die elf Frontschweine gemustert, die hinter dem einarmigen Hauptmann und Ritterkreuzträger ihr Geschütz anschleppten. Sie kamen aus einer anderen Welt.
    Rollo rempelte ungnädig gegen einen aufgelösten Stabszahlmeister mit Portweintrinkergesicht, der sich jammernd auf der Suche nach seinen zwei letzten Hühnern befand. Fritz wandte sich an ein molliges Milchgesicht, das sich mit einigen Kameraden einen Bierkasten teilte. »Was glotzt ihr so? Noch nie ’n Soldaten gesehen?«
    »Wie schaut’s denn da vorn aus? Habt ihr die Russen bald weg?«
    Ein anderer, der mit seinem um den Kopf gewickelten Schal wie ein altes Weib mit Vollbart aussah , ließ den Schnappverschluss einer neuen Bierflasche aufspringen und wärmte den ersten Schluck sorgfältig im Mund. »Legt mal’n Zahn zu«, sagte er undeutlich. »Ich bin nicht hierher marschiert, um unverrichteter Dinge

Weitere Kostenlose Bücher