Stalingrad - Die Einsamkeit vor dem Sterben
bereits wieder in dem Menschenhaufen verschwunden, der weiter an ihm vorbeizog, dabei selbst in der Kälte noch stinkend, und den er noch immer nicht als Überbleibsel seines ehemaligen Regiments identifiziert hatte.
Er stieg zurück in den Kübelwa gen und schrie seinen Fahrer unbeherrscht an, er solle Gas geben und ohne Vorwarnung in den Haufen hineinjagen.
Der Fahrer hatte keine Wahl und tat, wie i hm befohlen. Die Männer vor ihm mussten erneut in den hüfthohen Schnee springen, um nicht überrollt zu werden.
Die ganze Nacht ging es durch Dunkelheit, Schnee und eisige Kälte. Ohne Verpflegung. Zehn Mann konnten wegen schwerer Erfrierungen nicht mehr weitergehen und wurden in einem überfüllten Erdbunker zurückgelassen, der als Verwundetensammelstelle diente und wo ein Sanitätsgehilfe mit verschmierten Brillengläsern auf jede Frage, die der Leutnant ihm stellte, nur mit den nach vorn gekrümmten Schultern zuckte.
Nein, diejenigen, die noch ir gendwie gehen konnten, ins Lazarett zu schicken, habe keinen Sinn, denn dort sei nicht einmal mehr in den Zelten Platz. Angeblich sollte ein Arzt kommen und ein Behelfslazarett einrichten, doch der Sanitätsgehilfe wartete schon seit Tagen auf ihn. Dem Divisionsstab war seine Lage bekannt. Er hatte keine schmerzstillenden Medikamente, kein Heizmaterial und noch fünf Päckchen Verbandsmull. Über die Bitte nach einer Kleinigkeit zu essen lachte er. Das Wasser lief über die Erdwände und aus den Augen der Sterbenden. Die Gesichter der Toten waren an den Eiszapfen zu erkennen.
Zwei der zehn Gehunfähigen meldeten sich daraufhin als kampffähig zurück.
Irgendwann kam der Morgen. Klirrende Kälte. Im milchigen Nebel die schattenhaften Konturen eines Dorfes. Davor, nur vage auf der Schneefläche auszumachen, ein sich bewegender Fleck. Es war ein Reiter, der wie eine Miniatur auf einer gewaltigen weißen Bühne wirkte. Er umkreiste im Galopp den müden Trupp und ritt dann näher heran.
Der Anblick des unverschämt gut genährten Pferdes ließ den Männern das Wasser im Mund zusammenlaufen. Auf dem Rücken des Tiers saß ein junger Hauptmann im pelzbesetzten Wintermantel.
»Schau dir die Zwei-Sterne-Flasche an!«
»Der reitet spazieren. Ich kann’s einfach nicht glauben!«
»Dem sein Gaul sieht besser aus als wir.«
So war es in der Tat. Der junge Hauptmann, von ebenso edlem Geblüt wie sein Untersatz und mit fröhlichem Gesicht, stieg ab und stellte sich vor. Er gehörte zum Korpsstab und erkundigte sich, ob man nicht einen einzelnen Reiter gesehen habe, der ein Fell hinter sich herzog. Selbst Hans von Wetzland brauchte einige Zeit, bis er begriff, dass hier eine Fuchsjagd veranstaltet wurde.
Sichtlich verwirrt registrie rte der junge Hauptmann die Fassungslosigkeit der Männer und meinte schließlich verlegen, dass der Rest der Jagd auch ohne ihn stattfinden könnte. Höflich erkundigte er sich nach ihrem Ziel, und Hans erfuhr, dass das Dorf vor ihnen tatsächlich das erste Etappenziel ihres Schneemarsches war.
Voller Mitgefühl musterte der junge Hauptmann die jämmerliche Verfassung der Männer. »Sie w aren wohl die ganze Nacht unterwegs?«
»Jawohl«, erwiderte Hans kurz und wollte weiter. Die gesamte Erscheinung des Hauptmanns war ihm unangenehm. Zu vieles an ihm erinnerte ihn an seine eigene Vergangenheit.
Doch seinem jungen Stabskollegen lag offensichtlich an einer Fortsetzung des Gesprächs. Neugierig suchten seine Blicke nach Hans’ Schulterstücken. Schließlich hatte sich ihm diese ausgemergelte Gestalt als Offizier vorgestellt. »Haben Sie Ihre Uniform verloren, Herr Leutnant?«
»Ja«, kam die einsilbige Antwort. Die Erschöpfung ließ die Umgebung vor Hans’ Augen verschwimmen, und für einen Moment galoppierte er mit seinem Lieblingspferd über eine leuchtend grüne heimatliche Wiese. Mit einem Sprung setzte er über einen Graben und in seine alte Gefühlswelt zurück, so plötzlich, dass ihm das Herz zu zerspringen drohte. Er blinzelte angestrengt und fand wieder in die Wirklichkeit zurück. Die Erinnerung würgte heftig in seinem Hals, während er die reifbedeckten Nüstern des Pferdes streichelte.
»Ein schönes Tier haben Sie da«, murmelte er.
»Reiten ist meine ganze Leidenschaft«, erklärte der Hauptmann, glücklich, in diesem verlorenen Haufen eine verwandte Seele gefunden zu haben. »Was soll man auch sonst hier machen? Strategisch gesehen ziemlich eintönig, die ganze Sache. Das gilt natürlich nicht für Ihren tapferen
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