Stalingrad - Die Einsamkeit vor dem Sterben
brüllte Fritz Slesina an.
»Lass dich nicht kirre machen«, sagte Haller betont laut. »Der traut sich sowieso nicht.«
Slesina war sich dessen offenbar nicht so sicher. Seine Lippen zitterten.
Rollo wollte nach seiner MPi greifen und sah erstaunt, dass Bubi sie in den Händen hielt. Die Mündung war auf ihn gerichtet.
»Ich schieße«, keuchte der Kleine.
»Mach doch keinen Blödsinn«, zis chte Rollo. »Lohnt sich nicht.«
»Doch«, flüsterte Bubi. »Blödsinn ist das Einzige, was sich hier noch lohnt.«
»Nimm jetzt endlich die Flossen h och!«, brüllte Fritz Haller an.
»Komm, tu ihm den Gefallen!«, schrie Rollo nach draußen, dem klar war, dass der Dicke wirklich verrückt genug war, um abzudrücken. Er hatte Herzstechen, kletterte trotzdem aus dem Laster und sprang in den Schnee, wobei er sich zwang, die Hände in die Höhe zu halten.
»Hier, ich nehm auch die Hände hoch. Wir müssen uns doch nicht gegenseitig abknallen. Wir sind Kameraden. Kommen Sie, Herr Oberleutnant, vergessen wir die alten Geschichten.«
Haller hob ebenfalls die Hände. Es war besser, kein Risiko einzugehen. Das war nicht sein Tag heute. Am Flugplatz hatte es nichts mehr zu fressen gegeben, der Weg zum Verpflegungsamt in Pitomnik-Stadt, wo jeden Moment die Russen auftauchen konnten, war durch ein ausgebranntes Sturmgeschütz versperrt gewesen, und jetzt vertrödelte er auch noch wertvolle Zeit mit diesen Verbrechern.
Natürlich hätte er den Leutnant einfach laufen lassen können, aber das ließ sein Pflichtgefühl nicht zu.
In Wirklichkeit war es die Angst, das schützende Korsett der Hierarchie könnte zerbrechen.
»Knall sie ab!«, flüsterte er Slesina zu.
Slesina starrte ihn ängstlich an.
Hans hatte mittlerweile Fritz erreicht. Haller konnte es nicht ertragen, seinen alten Widersacher entkommen zu sehen. Leute wie dieser Leutnant, die die Ordnung nicht respektierten, waren verantwortlich für den Niedergang der Armee, für die drohende Niederlage, waren verantwortlich, dass möglicherweise auch sein eigenes Ende unerbittlich näher rückte.
Wütend zischte er Slesina zu: »Drück ab, oder ich lass dich an die Wand stellen!«
Slesina blinzelte, und es wirkte, als wollte er anfangen zu weinen. Dann riss er den Abzug durch.
Rollo und Fritz warfen sich neben Hans zu Boden. Der Feuerstoß traf Bubi, der es irgendwie geschaf ft hatte, aus dem Lkw auszustei gen, und der auf einem Bein stehend am Lastwagen lehnte. Dumpf spürte er die Geschosse, die seinen Körper durchschlugen, während er instinktiv zurückschoss und ihm gleichzeitig schwarz vor Augen wurde.
Seine Garbe fegte Slesina von den Füßen.
Rollo kam halb hoch und sah, wie Bubi zusammenbrach. Das Blut färbte den Schnee unter ihm rot.
Rollos Gesicht verzerrte sich zu einer wutentstellten Fratze, und er stürzte auf die Feldgendarmen zu. Die ergriffen die Flucht. Fritz wollte auf sie schießen, doch Rollo geriet in seine Schusslinie. Er holte einen der Feldgendarmen ein, riss ihn zu Boden und zertrat ihm in blinder Wut den Schädel.
Haller und der zweite Feldgendarm verschwanden im Nebel. Fritz riss Rollo zurück.
»Bubi … Mein Kleiner …«, stammelte Rollo. Er starrte Hans an, der reglos neben ihm stand. »Alles wegen Ihrer Feigheit«, schrie er. »Sie konnten ihn nie leiden!« Er ging zu Bubi, kniete sich neben ihn, sein Kopf pendelte schluchzend hin und her. »Aber er hatte nichts gegen Sie«, murmelte er. »Im Gegenteil, er hat Sie gemocht, genauso wie mich. Er hat Sie gemocht.« Seine Stimme verfiel in den Tonfall eines kleinen Jungen: »Nur gemocht, mehr nicht …«
Er brach ab und starrte auf den blutigen Schnee. Fritz nahm ihn in den Arm. Hans holte schweigend Waffen und Munition der Feldgendarmen aus dem Kübelwagen. Er durchsuchte ihre Taschen, fand ein Stück Trockenbrot und eine Dose Scho-Ka-Kola. Er staunte über die klaren Gedanken, die er zu fassen imstande war. Er staunte darüber, dass er fest entschlossen war, sein Leben bis zuletzt zu verteidigen, und das gegen jeden. Er staunte darüber, dass ihm seine Stimme weit entfernt vorkam, wie aus einer abgelegenen Schlucht hallend, als er auf den von Rollo Erschlagenen wies und befahl: »Nehmt seine Sachen mit.«
Fritz nickte, rüttelte Rollo an der Schulter. »Wir müssen weg, bevor der Motor kalt wird.« Dann st apfte er zu der Leiche des Feldgendarmen und zog ihr den Mantel aus.
Rollo kam langsam wieder zu s ich und half Fritz und dem Leutnant. Es gab einiges zu holen: Mäntel,
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