Stalingrad - Die Einsamkeit vor dem Sterben
Fäustlinge, Fellstiefel … Sie beeilten sich. Jeden Augenblick konnte jemand vorbeikommen.
Als sie fertig waren, zeigte Hans auf Bubi. »Sollen wir ihn mitnehmen und beerdigen?«
Fritz schüttelte den Kopf. »In die Erde bringst doch nichts rein.«
»Scheißerde«, sagte Rollo.
Fritz bückte sich und fuhr dem Jungen ein letztes Mal durchs Haar. »Auf bald.« Dann schaute er Hans fragend an. »Wohin?«
Hans überlegte nur kurz. » In die Stadt. Da ist’s wärmer.«
Fritz schnitt ihm die Fesseln durch.
70
S ie hatten Glück. Der Motor sprang wieder an. Um den Russen nicht in die Hände zu fallen, die möglicherweise bereits bis Pitomnik-Stadt vorgedrungen waren, kehrten sie um und erreichten vor der breiten Masse der Zurückflutenden die Straße nach Goncara. Während der Fahrt zerkauten sie die Lebensmittelreste, die sie den Feldgendarmen abgenommen hatten. Als sie Goncara erreichten, war es längst dunkel. Eine Laterne wurde vor ihnen auf der Straße, die ins Dorf führte, geschwenkt.
»Halt an«, sagte Rollo.
Fritz ging vom Gas, bis sie bis auf wenige Meter an die Laterne heran waren, dann trat er das Pedal durch, und der Wagen machte einen Satz, die Laterne flog zur Seite, zwei Schüsse peitschten hinter ihnen her.
Rollo wollte ins Steuer greifen, Hans stieß ihn zurück. »Du kannst jederzeit aussteigen und auf die russischen Panzer warten, wenn’s dir nicht passt«, sagte er kalt.
»Jederzeit«, bestätigte Fritz.
Rollo schwieg. Er hatte nicht mehr die Kraft auszusteigen, geschweige denn zu kämpfen, schon gar nicht gegen dreißig Tonnen schwere Panzer. Er wollte nur noch schlafen, am besten endlos, aber auch das wagte er nicht, weil er plötzlich Angst hatte, dass die zwei anderen nur darauf warteten, ihn loszuwerden.
Ohne noch einmal aufgehalten zu werden, durchquerten sie das Dorf und fuhren stumm durch den aufkommenden Schneesturm. Kurz vor Gumrak ging ihnen der Sprit aus.
Sie marschierten auf eine dunkle Masse vor den ersten Ruinen der Stadt zu. Es war ein gigantisch er Fahrzeugfriedhof, ein unüberwindlicher Wall aus Stahl und Blech. Eingefrorene Motoren, leere Tanks, schief hängende Sturmgeschütze, Selbstfahrlafetten, die nach wenigen Metern im tiefen Schnee neben der Straße stecken geblieben waren. Dahinter, kaum erkennbar, zugewehte Spuren, weggeworfene Schaufeln, Eimer, Helme, mit denen Verzweifelte versucht hatten, die Fahrbahn vom Schnee zu befreien – ein aussichtsloses Unterfangen.
Und immer noch kamen neue hinzu, brüllten Stäbe und Nachrichtenoffiziere durcheinander, wollten zurückstoßen und wurden von den nachdrängenden ineinander geschoben. Hier brüllte ein Fahrer auf, der wie besessen an der Kurbel seines abgestorbenen Motors gedreht hatte und zwischen Kühler und Heck eingequetscht wurde, dort gellte ein Schrei, als einem anderen die Beine abgedrückt wurden, und als sich die Fahrzeuge nicht mehr bewegten, droschen die Menschen in sinnloser Wut aufeinander ein.
Zum ersten Mal sah Hans, dass zwei deutsche Offiziere wie Straßenköter im gefrorenen Matsch gegeneinander kämpften, und er stellte mit einem bitteren Lachen fest, dass wohl auch sie den Zeitpunkt verpasst hatten, sich standesgemäß selbst eine Kugel zu verpassen, so wie er selbst. Nun war man gezwungen, gemeinsam einem unendlich würdelosen Ende entgegenzuvegetieren. Im Gegensatz zu vielen anderen hatte er die berühmte letzte Patrone noch, die bis zum Schluss aufzuheben ihnen der Führer in weiser Voraussicht nahegelegt hatte. Aber er wusste genau, dass er unfähiger war als jemals zuvor, sie zu benutzen, denn die Willenskraft, die eine solche Tat erforderte, war längst verflogen. Schlimmer noch, wie zum Hohn loderte der Lebenshunger umso gieriger in ihm, je größer das Elend wurde und je unausweichlicher das Ende näher rückte, und je mehr seine Gedanken den Tod zu befehlen versuchten, umso hartnäckiger wehrte sich jede Faser seines Körpers dagegen.
Er verachtete sich unendlich für seine Unfähigkeit, Schluss zu machen. Für seine Feigheit muss te er den Wucherpreis des stückweisen Ablebens bezahlen.
Einige Feldgendarmen verständigten sich unter dem Kommando eines Stabsoffiziers und trieben mit bewundernswertem Organisationstalent und Maschinenpistolen die Landser zu einer Schneeräumkolonne zusammen. Ein Kerl mit rußverschmiertem breitem Gesicht, einigen Kochtöpfen und einem abgeschnittenen Pferdebein auf dem Rücken, betrachtete beinahe erstaunt den Lauf
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