Stalingrad - Die Einsamkeit vor dem Sterben
wieder, wie wichtig ihm der Leutnant war, der wie so viele andere ein zu weiches und verträumtes Gemüt für diesen Krieg hatte. Er kniff die Augen zusammen und versuchte, die Gestalten am Zelteingang durch den Nebel auszumachen.
Plötzlich glaubte er, Hans zu erkennen, und er atmete erleichtert auf. Er zog kurz Bubis Gesichtsmaske hoch, um sich zu überzeugen, dass er noch lebte. Er spürte den schwachen Atem auf seiner Hand, stapfte durch die Reihen der Schwerverwundeten, kippte einen der Toten von einer Trage und leg te den Jungen darauf. Dessen Gesichtszüge hatten noch spitzere Konturen angenommen; er würde es höchstwahrscheinlich nicht schaffen.
Fritz fühlte trotzdem keine G ewissensbisse. Den Kleinen anzuschießen war die einzige Möglichkeit gewesen, auf das Rollfeld zu gelangen. Außerdem hätte Bubi sie sonst verraten.
Er kniete sich neben ihn und wä rmte den Kopf in seinen Händen.
»Wir schaffen es, du musst nur durchha lten! Wir schaffen es!«
Bubi öffnete mühsam die Augen zum Zeichen, dass er verstanden hatte.
Fritz fühlte die geladene Pistole, di e er unter seiner Feldbluse versteckt hatte. Sofort nach der Landung würde er es tun. Er würde sich die Kugel durch den rechten Arm jagen, durch den Knochen. Mit einem steifen Arm konnte man immer noch Lkw fahren, aber nicht mehr schießen. Er schwor sich, dass die Kugel in seinen Arm die letzte sein würde, die er in seinem Leben abfeuerte.
Das Grollen der Front war schon zu nahe herangekrochen, als dass man den Motor der Ju 52 hätte hören können. Schemenhaft tauchte sie aus dem Nebel auf und schwebte auf die wartenden Verwundeten zu. Deren krächzender Jubel verwandelte sich in Entsetzen. Der Pilot hatte sich offensichtlich im Nebel verschätzt. Viel zu schnell und viel zu spät setzte die Maschine auf der glatten Landebahn auf. Beim Versuch, doch noch rechtzeitig zu bremsen, geriet das schwer beladene Flugzeug außer Kontrolle, drehte nach rechts, das Vorderrad rutschte über ein Markierungsfeuer, und wild schlingernd steuerte der Rumpf auf die wartenden Verwundeten zu, die schreiend auseinanderstolperten, ausrutschten und auf Händen und Füßen über die spiegelglatte Eis- und Schneefläche krabbelten, und für einen Moment gab es keine Henker und Opfer mehr, denn auch die Feldgendarmen stoben brüllend auseinander, und alles vermengte sich zu einem fluchenden Haufen auf wilder Flucht.
Die Schwerverwundeten konnten nicht weglaufen. Entsetzt h atten sie sich auf ihren Tragen aufgerichtet und starrten auf die aus dem Nebel brechende Maschine. Ihre Leitwerke zerhieben das Hanfseil. Wer konnte, richtete sich mit letzter Kraft auf, Einbeinige versuchten verzweifelt wegzuhüpfen und wurden von den wirbelnden Propellern in Stücke gehackt, während die Räder dumpf mitten zwischen die Tragen krachten, sterbende Leiber überrollten und sich über zum letzten Schrei aufgerissene Münder wälzten.
Um das Brüllen und Wimmern der Sterbenden kümmerten sich die Überlebenden genauso wenig wie um die Befehle der Feldgendarmen, die sich verzweifelt gegen den Strom der Anstürmenden zu stemmen versuchten. »Zurück, zurück, oder wir schießen! Die Maschine muss entladen werden, seid doch vernünftig!«
Es gab kein Halten mehr. Offiziere, Mannschaften, alles stürzte auf die Einstiegsluke zu. Wer nicht mehr gehen konnte, kroch voran, zog sich an den anderen z um Flugzeug. Schulterstücke wurden abgerissen, Koffer platzten auf, wer den Halt verlor, wurde niedergetreten.
Die ersten Hände klammerten sich um die Griffe der Luke, rissen sie auf und warfen die Ladung, die dringend benötigten Medikamente, die heiß ersehnten Lebensmittel in den Schnee, um Platz für den eigenen Leib zu schaffen, und wer den Fehler machte, sich nach einem aufgeplatzten Sack Reis, nach mit Mehl bestreuter Marmelade, nach einem zersprungenen Schnapsballon zu bücken, der hatte verloren und wurde von den Tritten der Nachdrückenden in die Nahrung getrampelt.
Fritz riss Bubi von der Trage hoch, legte dessen dürre Arme um seinen Hals und brach sich mit Tritten und Fäusten rücksichtslos Bahn durch die Menge. Es gelang ihm, in den Windschatten eines Wachtmeisters zu gelangen, der seine Funktion als Ordnungshüter längst aufgegeben hatte und mit ei ner Pistole und kräftigen Faustschlägen gut vorankam. Fritz’ Stiefel stampften über menschliche Leiber, ein harter Ellenbogen wurde ihm gegen die Wange gerammt, er schlug ihn beiseite, die Arme des Kleinen erdrosselten ihn
Weitere Kostenlose Bücher