Stalingrad - Die Einsamkeit vor dem Sterben
Leben will ich für all meine Verbrechen, meine Morde haben, dachte er bitter, wenigstens das. Es war nur eine leere Phrase, dass man mit seiner Ehre zerbrach, erfunden von denen, für die ein hirnlos bis zur letzten Patrone Kämpfender nützlicher war als ein Feigling mit Verstand. Aber was hieß hier Feigling? War es nicht sogar ehrenvoller und mutiger, endlich einmal etwas richtig zu machen – und das rechtzeitig, bevor es zu spät war.
Aber nein, Gross hatte recht gehabt, es war von Anfang an zu spät gewesen. Es war bereits zu spät gewesen, als Hans diesen Rock angezogen hatte, von dem mittlerweile nur noch Lumpen übrig waren, zu spät, als er mit polierten Stiefeln in diesen dreckigen Krieg marschiert war, sich voll romantischer Freude nach Ruhm und Blut sehnend. Es hatte in diesem Krieg keine Ehre gegeben, und die hatte es wahrscheinlich in keinem Krieg gegeben. Denn das Töten von Menschen konnte niemals ehrenvoll, sondern bestenfalls notwendig sein, so wie für die Russen, die hier mit dem Rücken zur Wand ihre Heimat verteidigten. Eine Moral, die aus dem Töten, aus dem Schlachten eine Ehre machte, war krank, pervers, aber sie war notwendig, um zum Krieg zu verführen, und hatte man erst einmal die eigenen Hände ins Blut getaucht, war man infiziert, gezeichnet, verloren. Um im Krieg zu überleben, war es notwendig, dass sich das Entsetzen und der Ekel in Rausch und Faszination verkehrten.
Zum Krieg gemacht, zum Krieg pervertiert – was hatten sie noch in einem Frieden zu suchen? Vielleicht wurde der Krieg nur deswegen fortgeführt, um sie loszuwerden, um das lebensunwerte Kriegsinsekt, den Frontsoldaten, zu vernichten.
Schwarze Flecken tanzten vor seinen Augen, seine Zähne schlugen heftig aufeinander, während er seine Gedanken laut weiterführte: »Vielleicht stimmt ja doch etwas von dem Geschreibsel in den Flugblättern. Gute Behandlung. Essen, Ärzte …«
Rollo starrte ihn wütend an. »Damit eins ganz klar ist: Bevor ich zu den Russenschweinen überlauf, verreck ich lieber, und ich knall jeden ab, der’s probiert.« Er warf Fritz einen drohenden Blick zu. »Mit’m Flieger abzuhauen, war zwar auch ’ne Sauerei, aber der wär wenigstens zu unsern Leuten geflogen.«
Hans sah Fritz an. »Was meinst du?«
Fritz zögerte. »Selbst wenn wir nicht gleich abgeknallt werden, ein russisches Kriegsgefangenenlager i s nicht viel anders als ’n deutsches. Scheiße is so oder so.«
Sie waren alle drei zu erschöpft, um weiter darüber zu reden. Fritz betrachtete die tote Russin in der Ecke und ertappte sich dabei, dass er sie um ihren ruhigen, ewigen Schlaf beneidete. Er versuchte, den Gedanken zu verscheuchen. Hoffentlich wird es bald dunkel, dachte er, wir müssen essen, brauchen eine warme Unterkunft, sonst erfrieren wir.
»Trotz allem sind wir noch deutsche Soldaten«, murmelte Rollo. »Wir hatten Pech. Ich jedenfalls. Und Bubi auch.«
Sie taumelten in den nächsten Schlaf, und ihre Füße zuckten beim geträumten Marschieren, orientie rungslosen Dahinschleppen, ziellosen Vorwärtskriechen. Die Ratten bewahrten sie vor dem Erfrieren. Rollo versuchte eine zu packen, die sich auf sein Gesicht gesetzt und die Zähne in seinen Schorf geschlagen hatte, aber er war zu langsam.
Fritz richtete sich mit schm erzendem Nacken und tauben Gliedern auf.
Draußen war es dunkel, klar und eiskalt. Sie weckten Hans, der allein nicht mehr aufstehen konnte. Fritz schleppte ihn hinaus und zwang ihn zu gehen, bis das Blut wieder in seinen Beinen zirkulierte.
Mühsam arbeiteten sie sich zwischen den Wracks hindurch, schleppten sich in den Ort, fragten herumirrende Gestalten nach dem Verpflegungsamt, blickten in stiere Augen, furunkelübersäte Gesichter. Verpflegungsamt? Einer bot ihnen einen Topf mit Schmierfett an. Er hatte ihn bereits zur Hälfte aufgegessen.
Schnee, Kälte, Nacht.
Die blutigen Bilder aus dem Partisanendorf tauchten immer öfter in Hans’ Erinnerung auf. Er glaubte, wieder den Greis vor den brennenden Hütten zu sehen, erneut den Todesgesang der Frauen und Kinder zu hören. Letzteres war keine Einbildung, nur war es diesmal ein Todesgesang für deutsche Soldaten, gesungen von einem Feldgeistlichen, der in einer viel zu weiten Uniform in der ausgeräucherten Maschinenhalle einer Kolchose stand und die Hände beschwörend über einen kleinen Haufen frierender Gestalten breitete, die sich anstatt am Feuer wenigstens an seinen Worten zu wärmen versuchten.
Auch die drei Deserteure stellten sich
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