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Stalingrad - Die Einsamkeit vor dem Sterben

Stalingrad - Die Einsamkeit vor dem Sterben

Titel: Stalingrad - Die Einsamkeit vor dem Sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Fromm
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schien? Abhärtung, Gewöhnung, Abstraktion, Sachlichkeit. Sechs Milliarden verpulverter Reichsmark! Sechstausend Mark pro Leiche. Kein schlechtes Kopfgeld.
    Die höchste Form der Demütigung aber war das Abgleiten in den Wahnsinn, so wie es dem ehemaligen Leutnant Hans von Wetzland geschah, der begierig die letzten, die einzigen Drogen, mit denen dieses Inferno zu ertragen war, mit Schnaps in sich zum Lodern brachte, bis er sich im Auge des Z yklons glaubte, im ruhenden Zentrum der Hölle, ein Kriegsgeschöpf, befreit von jeder menschlichen Regung.
    Durch den Qualm hindurch sahen sie plötzlich die Silhouetten von Flugzeugen. Fritz legte sich betrunken auf den Rücken, feuerte auf sie.
    »Hör auf!«, brüllte Rollo, der in einer Rauchlücke den lang gestreckten Rumpf einer Heinkel ausgemacht hatte. »Das sind Deutsche!« Er packte Fritz’ Arm. »Mensch, da …«
    Die Flugzeuge, unter heftigem sowjetischen Beschuss, warfen Versorgungsbomben ab. Fritz schoss weiter, in seinem benebelten Gehirn unterschied er nicht mehr zwischen feindlichen Flugzeugen, die ihn beschossen, und eigenen, die ihn schmählich im Stich gelassen hatten. Die Kugeln seiner MPi stießen ins Gewölk, knapp an einer Versorgungsbombe vorbei, die hundert Meter hinter den Rändern der Zerstörung zu Boden fiel. Fritz starrte mit offenem Mund auf die Stelle, wo das Essen für mindestens eine Woche im tiefen Schnee versank. Die anderen stierten in dieselbe Richtung.
    »Fressen oder Tod!«
    Sie sprangen aus dem Trichter, torkelten bis zum nächsten, warfen sich hinein. Das deutsche Flugzeug, das die Bombe abgeworfen hatte, wurde währenddessen getroffen, stürzte brennend ab.
    Nachdem die nächste Walze ü ber sie hinweggefegt war, sprangen sie wieder auf, liefen etwas zielsicherer zu der Bombe, sprangen von einem Trichterrand in den tiefen Schnee. Er reichte ihnen bis zum Hals.
    Die Hoffnung auf etwas Essbares verlieh ihnen einmal mehr übernatürliche Kräfte. Wild mit den Armen rudernd, arbeiteten sie sich keuchend bis zu der Versorgungsbombe durch, die unversehrt im Schnee steckte. Die Umgebung vor ihren Augen schwankte, das Herz raste und sandte schmerzhafte Stiche bis unter die Schäde ldecke. Vergebens versuchten sie ihren Fund zu der Ruine einer einsamen Bauernkate zu zerren. Eine neue Feuerwoge rollte in gefährlicher Nähe an ihnen vorbei.
    Fritz schlitzte die Bombe mit seinem Messer auf, griff sich in fieberhafter Eile einige Tafeln S chokolade, Hans und Rollo ergatterten ein paar Konserven, sie keuchten auf die Ruine zu, hechteten im letzten Moment mit ihren Kostbarkeiten in einen Trichter. Ein Volltreffer zerstörte die Bombe und bedeckte sie mit Konservensplittern und Schweinefleischresten.
    Fritz riss mit fliegenden Fingern die erste Schokolade auf, biss die Hälfte ab. Speichel lief ihm über das rußverschmierte Kinn, er schluckte ohne zu kauen, in sein en Augenhöhlen erschien ein beinahe überirdisches Leuchten. Lachend schwenkte er den Rest der Tafel gegen das brennende Flugzeugwrack.
    »Bombe recht zeitig abgeworfen, guter Mann!«
    Das Feuer verlagerte sich weiter nach hinten.
    »Los!«, brüllte Rollo, der seine Rindfleischkonserve nicht aufbekam und Angst hatte, dass Fritz die ganze Schokolade allein fraß.
    Sie sprangen auf und stolperten in die verbrannte Ruine.

 
     
     
     
     
     
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    D ort fielen sie erschöpft zu Boden. Nach Luft japsend gewöhnten sie sich an den Gedanken, dass sie nicht nur lebten, sondern tatsächlich auch etwas zu essen hatten. Bevor sie damit anfingen, warfen sie einen letzten ungläubigen Blick auf die Lebensmittel, um die sich ihre Hände gekrallt hatten. Erst leise und stoßweise, dann immer lauter, begannen sie durcheinanderzukrächzen. Sie lachten und weinten, ihre Geschmacksnerven lernten schneller, zwischen Schokolade und gedörrten Datteln zu unterscheiden, als ihre Gefühlsnerven zwischen Freude und Trauer.
    Es trieb ihnen die Tränen in die Augen, sie konnten sich nicht erinnern, jemals etwas so Schönes erlebt zu haben, sie konnten überhaupt nichts mehr denken, nichts mehr fühlen, nichts mehr sehen außer dieser wunderbar duftenden braunen Milchschokolade.
    Und sie waren so sehr mit Essen beschäftigt, dass sie den Schatten nicht bemerkten, der von hinten über sie fiel. Begeistert rissen sie neue Packungen auf, fanden Präservative. Fritz stülpte Rollo einen über den Zeigefinger. »Geh raus, vielleicht haben sie die Weiber gleich mit abgeworfen!«
    »Macht euch mal keine

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