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Stalingrad - Die Einsamkeit vor dem Sterben

Stalingrad - Die Einsamkeit vor dem Sterben

Titel: Stalingrad - Die Einsamkeit vor dem Sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Fromm
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Granaten.
    Dann brüllte es auf, die Straße verwandelte sich in einen Klumpen aus Erde, Schnee und Fleisch, und dann gab es keine Verwundeten mehr und auch keinen Pfarrer.
    Das war der Tag, an dem Fritz und Rollo gemeinsam mit ihrem delirierenden Leutnant hatten überlaufen wollen. Das blutige Bild vor Augen, so schrecklich, dass es vom Unterbewusstsein zum Traum deklariert wurde, wussten sie nun, dass es nirgendwo mehr Rettung gab. Jetzt nicht mehr. Ihre Führung hatte sie so lange zum Widerstand geprügelt, gequält, bis es endgültig keine Gnade mehr gab.
    Und wieder heulte, rauschte und pfiff es heran und verwandelte das Dorf und die umliegenden Stellungen in einen brodelnden Vulkan.
    Sie sahen eine Gestalt aus einem der Bunker treten und langsam und aufrecht, mit vorsichtigen kleinen Schritten durch den schwarz gepflügten Schnee auf die feindli chen Linien zugehen. Oberstleutnant Rettenbacher, kurzfristig zum Chef der letzten Batterie ernannt, war geblieben und hatte in Absprache mit dem Pfarrer seine Batterie mit noch ganzen zwei Dutzend Schuss schweigen lassen, um den Verwundeten die Kapitulation zu ermöglichen. Alles umsonst. Selbst Befehlsverweigerung war umsonst.
    Und dieses letzte »umsonst« konnte Rettenbacher nicht mehr verkraften. Deswegen war er nun, den Lieblingschoral seines toten Freundes auf den Lippen, auf seinem letzten, aussichtslosen Weg zu den feindlichen Linien. »Eine feste Burg ist unser Gott«, sang er und verschwand zwischen den hoch aufspritzenden Explosionsfontänen.
    Hans starrte ihm mit staubverklebten Augen hinterher, und der Feuerschein und das berstende Krachen der nächsten Geschossserie brannten und hämmerten ihm ein: das war ich, bin mir selbst vorausgegangen. Und wie ein Magnet zog es ihn hoch, um seine traumhafte Wahnvorstellung, die er für Bestimmung hielt, zu erfüllen, und während Fritz und Rollo vor den näher brandenden Einschlägen zurück in die flache Mulde flüchteten, die einmal ein Graben gewesen war, taumelte er über dampfende Erdbrocken, tauenden Schnee und Leichenteile, hysterisch lachend und ums Gleichgewicht kämpfend, der eigenen Vernichtung entgegen.
    Fritz, die Hände in die rußgeschwärzte Erde gekrallt, sah ihn. Die Granaten hatten auch aus ihm jede Vernunft herausgebombt und dafür die verloren geglaubte n Gefühle für einen verloren geglaubten Freund zu neuem, wahnhaftem Leben erweckt. Er wollte hoch und hinterher, und Rollo, der einzig vernünftig Gebliebene, warf sich über ihn und rettete ihm das Leben, indem er ihm das Gesicht blutig schlug.
    Fritz sah Hans hinter einem neuen Rauchschleier verschwinden, und die Enden des Todesvorhangs fegten ihm ins Gesicht. Er presste den Kopf gegen den Boden und stopfte sich schluchzend Erde in den Mund.
     
    Hans glaubte durch den Rauch seine eigene Gestalt vor sich zu sehen, und er griff mit der Hand nach ihr, um in sein längst erfülltes Schicksal zu schlüpfen.
    Neue Sterne des Todes jagten in den Himmel, der Luftdruck der Explosionsreihe wirbelte ihn hoc h und schmetterte ihn in den Bodensatz eines Trichters. Geräusche und Geschossteile rauschten an ihm vorbei, Reste von Haar, Fleisch und Knochen. Sie kamen aus einem der benachbarten Unterstände, der von den ersten Einschlägen verschont geblieben war. Die Erde war blutgetränkt. Rohre, Kabel, gefrorener Schutt füllten sein Blickfeld.
    Sein Blut war voller Kugeln, die sich klirrend durch seinen Körper wälzten. Lächerlicherweise durchwehte ihn für einen Augenblick der alte Stolz, das Feuer besiegt zu haben, ehe ihm neue Erdbrocken auf den Schädel schlugen und er am ganzen Körper, ohne die geringste Empfindung, zitterte. Er hatte sich dem Tod angeboten, und der Tod hatte ihn verschmäht. Ausgespien vom Kriegsungeheuer, zwischen den blutigen Stahlzähnen herausgespuckt, war er nicht länger in der Lage, seine Unversehrtheit als Zufall oder gar Gnade empfinden zu können.
    Im Gegenteil entstand in ihm der Wahn, das gesamte Inferno um ihn herum rase allein ihm zum Hohn , verspotte ihn mit jeder weiteren Zerstörung, spare ihn auf bis zuletzt, damit er Zuschauer sein konnte, sein musste bei dem immer schrecklicheren Schauspiel, und diese völlige Ohnmacht im Angesicht der auseinanderbrechenden Welt verdrehte sein Gefühl. Über den Anblick zweier von den Armen gerissener, gefalteter Hände in einer Schlammpfütze brach er in gellendes Gelächter aus.
    Das Feuer verlagerte sich nach hinten. Ernüchtert stellte er fest, dass seine Mechanik bis auf

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