Stalingrad - Die Einsamkeit vor dem Sterben
und mit der anderen über den Boden tastend auf ihn zukroch wie ein sterbendes Tier, das sich mit letzter Kraft zu seinem Herrn schleppt. Das konnte nicht sein, es war doch ein Oberstleutnant, Regimentskommandeur, und er, Rollo, ein Nichts, ein halber, ein Dreivierteldeserteur.
Wimmernd starrte er Laske an, der weiter zu ihm kroch und dem dabei Eheringe, Schmuckstücke, Medaillons und sogar einige Goldplomben aus dem Mantel fielen.
Hans schob Fritz beiseite, der Laskes Schmerzensschreie durch einen Kopfschuss beenden wollte. Sein Gesicht wirkte wie aus Stein gemeißelt. Und seine Gedanken waren es auch. Der Tod hatte ihn nicht gewollt, also würde er weiterleben bis zuletzt. Das war ein letztes, schreckliches Spiel, und er war entschlossen, noch einige Runden zu gewinnen. Einfach so.
Gefühllos wie ein Chirurg die Operationswunde musterte er Laskes zerschossenen Bauch. Dann die Wertsachen. Er bückte sich, hob einen schweren goldenen Siegelring auf, hielt ihn Laske vors Gesicht. »Wo hast du das her? Wo sind die Lebensmittel, die du damit gebunkert hast?«
»Was für Lebensmittel?«, stammelte Rollo verständnislos.
»Wenn Sie nicht draufgehen wollen, hören Sie mir zu! Hören Sie mir zu, oder Sie verrecken!« Die Stimme des Leutnants klang so furchterregend, dass Laske sich den Schmerz verbiss. Es wurde still. »In unserer Bombe waren ein paar Morphiumampullen«, sprach Hans langsam und deutlich und starrte dem sterbenden Laske in die Augen. »Wenn Sie uns sagen, wo ihr die Lebensmittel gebunkert habt, bekommen Sie eine Spritze, und wir bringen Sie ins nächste Lazarett.«
Laske warf den Kopf hin und her. Er knirschte mit den Zähnen, schluchzte: »Die Schmerzen … I ch kann nichts sehen vor Schmerzen …«
»Wo ist das Depot?«
»Unser Depot …«, keuchte Laske. »Unser Depot … es … ist …«
»Ich gebe Ihnen die Spritze sofort. Das ist nur ein Bauchschuss, Sie kommen durch, mit Morphium kommen Sie durch!«
»Nicht mehr schießen«, flüsterte der Oberstleutnant.
»Nein, wir schießen nicht.«
Laske versuchte mühsam, die Augen zu öffnen, ein letzter Reflex, um zu ergründen, ob der Leutnant die Wahrheit sagte. Es gelang ihm nicht. Er hatte nicht mehr viel Zeit. Er konnte die Schmerzen nicht mehr aushalten. Er brauchte die Spritze. »Ja … Es ist gut … Nordteil … hinter dem Timoschenko, unter den … den weißen Häusern durch.«
Er erinnerte sich an durchgeführte Razzien. »Auskämmen, einsatzfähig. Innenhof … rote Mauern, Mitte, russisches Panzerwrack … innen Falltür … alles da … Kaffee, Kognak, Schoko … Alles da … alles … Verz…«
Er konnte das Wort nicht mehr zu Ende sprechen. Mühsam hob er die flatternden Lider, versuchte wieder zu schreien, aber neues Blut versperrte den Weg, und der Kot aus seinen zerstörten Eingeweiden stank aus seinem aufgerissenen Mund. »Spritze!«
Hans starrte aus dem Fenster. Ein schüchterner Lichtstrahl hatte durch die abziehenden Qualmmassen des Artilleriefeuers gefunden. Er reflektierte im Schnee und blendete seine Augen. Er fühlte sich leer, gereinigt, verlassen. Wie eine Gefängniszelle, deren Insasse gerade zur Exekution geführt worden war.
Er beugte sich über Laske und flüsterte: »Erinnere dich an den Jungen. An den kleinen russischen Jungen, den du hast abknallen lassen. Erinnerst du dich?«
Laske stöhnte. »Nein …«
»Zehn Jahre alt. Ein kleiner Junge. Denk nach!«
»Es … waren … so viele …« L askes Worte kamen in immer größeren Abständen. »Jetzt … tut mir leid … so viele …«
Hans wusste, dass Laske die Wahrheit sagte. Er konnte sich nicht mehr erinnern. Wozu auch? Um zu wissen, warum er starb? Er würde es nicht mehr begreifen. Es war auch egal. Es hatte sich eine so gewaltige Menge an Schuld und Sühne angesammelt, dass beides nichts mehr wert war. Eine Schuld- und Sühneinflation.
»Irene …«, stammelte der Sterbende und versuchte ihm seine Hand entgegenzustrecken, »Irene … bitte …«
Hans sah auf. Sein Blick suchte Rollo, der zitternd in einer Ecke hockte. »Wir schießen alle. Auch du, Rohleder!«
Rollo blinzelte verwirrt. »Ihr könnt doch nicht einen Offizier … Du hast gesagt, wir bringen ihn ins Lazarett!«
»Dann können wir uns gleich hier umlegen«, sagte Hans hart.
Rollo brauchte ihn nicht anzusehen, um zu wissen, dass er es ernst meinte. Zum ersten Mal seit langer Zeit fühlte er sich dem ehemaligen Leutnant unterlegen.
Er hob eine MPi vom Boden auf. »Was soll’s?« Sein
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