Stalingrad - Die Einsamkeit vor dem Sterben
Rauschen.
Fassungslos starrten die Soldaten auf das Gerät. Kein Wort über die absolute Hoffnungslosigkeit der Lage, kein Wort über Kapitulation.
Fritz trat das Gerät wütend zusammen. »Morgen gehe ich zu den Russen«, sagte er. »Das schwör ich euch.«
Zum ersten Mal widersprach Rollo nicht.
Sie aßen doch noch etwas von dem Mäusefleisch. Danach waren sie kräftig genug, um auch die restlichen Leichen in den Gang zu zerren. Utta ließ es teilnahmslos geschehen. Mit den Uniform- und Stiefelresten fütterten sie den Ofen. Der Eingang wurde mit zwei verbogenen Bettgestellen verrammelt.
Rollo bestand darauf, Wachen einzuteilen. Mitten im Satz schlief er ein, kippte nach hinten und kämpfte mit halb offenem Mund nur noch um Luft.
Die Erschöpfung, dachte Hans. Es geht so lange … Übergangslos verlor auch er das Bewusstsein und glitt in das Schattenreich bedrückender Albträume.
Der Unterschied zwischen Schlafen und Wachen existierte nicht mehr. Traumbilder wurden wahrhaftiger als die Wirklichkeit. Alles zerfiel zu einer grauen Masse, die zäh um ihren dunklen Mittel punkt kreiste und in der alle Gedanken und Bilder vergeblich um ihr Leben kämpften und versanken.
Im Traum starb auch er. Es war nur eine minimale Veränderung. Als hätte man das letzte Foto aus einem Projektor genommen und ihn abgeschaltet.
Rollo und Fritz wurden von einem leisen Kratzen und Schaben geweckt. Sie griffen nach ihren Waffen, ihre Blicke irrten umher, dann sahen sie es.
Hans rasierte sich mit einem etwas angerosteten Rasiermesser und schmutzigem Schneewasser. Blut perlte über seine Wangen. Er war sicher, dass er morgen sterben würde. Deshalb wollte er sich, wenigstens einmal noch, in einen einigermaßen menschenähnlichen Zustand bringen. Dem Körper einen Anflug von Würde verleihen, die das Gemüt längst nicht mehr besaß.
»Mensch, hör auf«, flüsterte Fritz. »Bei der Kälte wirst du grün und blau.«
Hans fuhr mit der Rasur fort. Seine Hände zitterten. Die Klinge schnitt in die vertrocknete Haut. Fritz wollte ihm das Messer wegnehmen.
»Lass ihn«, flüsterte Rollo. »Das braucht er jetzt, sonst dreht er endgültig durch.«
Rollo schwor sich, keine weitere Nacht in dieser Gruft zu verbringen. Der Wahnsinn war genauso ansteckend wie Typhus. Mit der MPi im Schoß dämmerte er weiter vor sich hin.
Fritz traute sich nicht mehr zu schlafen. Nach dem kurzen Augenblick der Ruhe fühlte er sich so schwach und matt, ausgedörrt von Durchfällen, die in seine Hose liefen und dort verkrusteten, zerschlagen von Schwindelanfällen und Herzstichen, dass er fürchtete, nicht mehr aufzuwachen, wenn er wieder einschlief. Morgen laufen wir über, dachte er, nur noch bis morgen!
Hans begann, seine Fingernägel sauber zu kratzen. Würgende Angst, wirre Träume, lähmende Gleichgültigkeit wechselten zyklisch. Manchmal saß er eine halbe Stunde reglos da, dann schrak er auf und fuhr fort, seinen dreckverkrusteten Körper zu bearbeiten, sich zu säubern, bis ihn ein Feuerschlag aus Hunderten von Rohren unterbrach.
Den Abschuss hielt er noch für eine Halluzination. Doch der Einschlag hob den Boden, schleuderte ihn empor, seine linke Gesichtshälfte schlug zischend auf den Ofen.
Benommen sah er, wie Rollo die verkeilten Bettgestelle beiseite riss, und spürte, wie Fritz ihn über die sterbenden, verfaulenden Leiber des Todesgangs zerrte, deren Gesichter schief durch sein Blickfeld sprangen. Keiner von i hnen machte noch Anstalten, wegzulaufen, und als Rollo den Sanitätsgefreiten anbrüllte, war die Antwort ein hohles Lachen und dann: »Vielleicht trifft’s uns heute. Warte schon seit drei Tagen drauf!«
76
L uft. Der Himmel verhangen von Qualmgewölk. Rauchbäume wuchsen in den Himmel, durchschnitten Staubschwaden, in deren Tiefe die rostroten Flecke der Abschüsse glühten.
Sie warfen sich vor dem Graben in einen frischen Trichter. Hinter ihnen wanderte die russische Walze die Stellung entlang. Der Unterstand, in dem sie die Nacht verbracht hatten, wirbelte durch die Luft, und ein blutiges Gemisch aus Erde, Schnee, Leibern und Balken prasselte herab.
Und dann sahen sie es, wogend, wie auf dem Kamm einer Welle: Goroditsche, die schwarzen, ausgebrannten Hütten, eine Straße und auf der Straße ein Geistlicher mit weißer Fahne und dahinter ein Zug Verwundeter, auf die Gefan genschaft zukriechend, mit hocherhobenen Händen, direkt unter dem schweren Flattern und Rauschen der nächsten
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