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Stalingrad - Die Einsamkeit vor dem Sterben

Stalingrad - Die Einsamkeit vor dem Sterben

Titel: Stalingrad - Die Einsamkeit vor dem Sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Fromm
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einen Splitter im Oberschenkel heil geblieben war. Keine Fasern und Muskeln, die letzten Verbindungen zu menschenwürdigem Empfinden, waren von Granatsplittern durchschnitten. Er wusste, dass er nicht noch einmal die Kraft auf bringen würde, ins Feuer zu marschieren. Er würde sein Ende abwarten müssen, demütig, erniedrigt, entmenschlicht.
    Zum ersten Mal empfand er k eine Verzweiflung deswegen, sondern beinahe Genugtuung, als sei etwas eingetreten, was er im Grunde seines Herzens immer gewusst hatte. Gleichgültig verfolgte er, wie sein Körper durch die Explosionsschwaden zurückkroch.
    Er hatte nichts mehr dagegen.
     
    Fritz starrte ungläubig auf die dreckige Hand, die sich plötzlich vor ihm bewegte, und riss Hans neben sich in den Trichter.
    »Sie wollten mich nicht«, stammelte der ehemalige Leutnant, und seine Augen wirkten in dem dreck- und rußbeschmierten Gesicht noch größer. »Sie wollten mich nicht, und ich konnte es nicht …«
    Eine neue Detonationswoge schleuderte sie gegeneinander. Fritz umklammerte Hans und Rollo und presste seine Wange gegen das in allen Farben angeschwollene Gesicht von Hans, der es ertrug, ungeachtet des Schmerzes und obwohl es ihm etwas übertrieben, beinahe lächerlich vorkam.
    Rollo versuchte, an seine Seitentasche zu gelangen. Seine Hände zitterten so sehr, dass er geraume Zeit brauchte, um einen Flachmann aus seinem Rock zu ziehen, den er in einem unbeobachteten Moment mit dem Kognak des Generals gefüllt hatte. Er hatte fest vorgehabt, ihn allein zu trinken. Er bugsierte die Metallöffnung mit beiden Händen in seinen aufgerissenen Mund und reichte den Flachmann nach mehreren tiefen Schlucken benommen weiter.
    »Nüchtern kommen wir eh nicht mehr heim.« Die anderen sahen ihn nur die Lippen bewegen, taub in Herz und Hirn bissen sie abwechselnd mit den Zähnen in die gefrorene Erde und schütteten hemmungslos Schnaps in sich hinein. Ihre Kiefer schlugen beim Sprechen unkontrolliert aufeinander. Der Alkohol wirkte rasch. »Sauf sie leer, bevor der Iwan sie kaputt schießt!«
    »Zu was sind wir abgehauen, wenn wir jetzt genau die gleiche Scheiße am Hals haben?«, lallte Fritz.
    »Weil ihr Idioten seid!« Völlig willkürlich Grimassen schneidend, schwenkte Rollo die Flasche. »Wir müssen uns zerstreuen, dann trifft’s nur einen auf einmal.«
    »Alle oder keinen!«
    Sie klammerten sich weiter aneinander wie Schiffbrüchige auf einem kenternden Boot, und Hans drehte den Kopf, bis er den Himmel über sich sah. Feuerblitze, Stahlsplitter, Rauch, Dreck. Er hatte die Angst verloren und verlor nun auch die Gleichgültigkeit; er begann, das gewaltige Schauspiel der Vernichtung zu genießen. Er lächelte. Erde zu Erde, Asche zu Asche, Fleisch zu Erde, Stahl zu Rauch.
    Die letzte Werferstellung wurde pulverisiert zu einem Universum aus Metallsplittern und Fleisch, und wären die Menschen aus Stahl gewesen, wie es der Führer immer wieder gefordert hatte, es hätte nichts genützt, denn seine Kanonen erwiesen sich als nur wenig widerstandsfähiger als ihre Knochen. In immer neuen Einschlägen wallte auseinandertreibendes sch warzes Gewölk, die Elemente verschmolzen, Feuer, Erde, Wasser, Luft, nicht mehr unterscheidbar. Wirbel, Trichter, Rauchballen.
    Ein zum dritten Mal aus dem Himmel fallendes Sturmgeschütz begrub die Teile einer Sanitätskompanie, die aus den rauchgefüllten Tiefen der Kasematten ins Freie getaumelt war, die Reste eines vorgeschobenen Beobachters klatschten zwischen die Maschen eines Stacheldrahtverhaus, und am and eren Ende der durchrissenen Leitung blieb ein tobender Oberst zurück, der Einzelheiten gemeldet haben wollte, Details.
    Ein Schwall neuer Granaten ergo ss sich in den Blut- und Metallbrei. Die Stunden schmolzen im Zwielicht dahin. Das Dorf verwandelte sich in einen überdimensionalen Aschenbecher, überquellend von verbrannten Menschen- und Materialresten, zu immer neuen, groteskeren Kriegsdenkmälern aufgetürmt. Ausgedrückt. Abgeaschert. Der Einzelne nicht einmal ein Fliegendreck auf einer Karte. Dort wurde nur noch nach Hunderten, Tausenden gerechnet, die Nullen summierten sich, und die Ungeheuerlichkeit der Zahlen würde ebenso spielend die Vorstellungskraft der Hinterbliebenen sprengen, ihre Leidensfähigkeit, wie die Sprengstücke der Granaten die Leiber. Wie sollte noch angemessen getrauert werden um über eine Million Tote, Menschen, verreckt im Kampf um eine einzige Ruinenstadt, wenn allein der Leidensweg eines Einzelnen unendlich

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