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Stalingrad - Die Einsamkeit vor dem Sterben

Stalingrad - Die Einsamkeit vor dem Sterben

Titel: Stalingrad - Die Einsamkeit vor dem Sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Fromm
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Landser. Keiner von ihnen trug noch eine Waffe.
    Sie gingen stumm an dem Flügel vorbei. Es war nicht mehr weit. Der Pfarrer blieb zwei Hinterhöfe weiter vor einem rauchgeschwärzten, zerschossenen Bau stehen und empfahl ihnen, die Hände hochzunehmen.
    Rollo und Fritz zögerten. Der Pfarrer versicherte, dass ihnen nichts geschehen würde, und sah sich ängstlich um.
    Hans befahl ihm vorauszugehen. Das Raster des Kämpfers schob sich in sein Gehirn. Es war das Einzige, was noch zuverlässig in ihm funktionierte, seine diffuse Gedankenwelt zurückdrängte und seine verschiedenen Persönlichkeiten zusammenhielt.
    Der Pfarrer betrat langsam und mit erhobenen Händen das zerstörte Erdgeschoss. Nichts geschah. Wahrscheinlich wurden sie beobachtet. Hans wartete ab. Eigentlich hätte ihm gleichgültig sein müssen, was in den nächsten Minuten geschah, aber das war es nicht. Seine Todesfurcht sublimierte sich in Eitelkeit. Es wäre schlicht und einfach beschämend gewesen, nach all den überstandenen Gefahren von irgendeinem überängstlichen Marodeur über den Haufen geknallt zu werden.
    So abgrundtief bösartig kann das Schicksal nicht sein, dachte er, seltsam belustigt über die bizarren Linien seiner Gedanken. Er wusste, dass es nicht stimmte. Das Schicksal war zu jedem Zufall, zu jeder Gemeinheit fähig. Wie doch ein wenig Essen und frische Wäsche den Lebenswillen beflügeln, dachte er verächtlich und hob die Hände.
    Die anderen folgten seinem Beispiel. Langsam gingen sie auf den Pfarrer zu. Als sie ihn erreicht hatten, waren sie plötzlich von vier Männern umstellt. Sie mussten sich sehr geschickt zwischen den Trümmern verborgen gehalten haben. Vier russische Maschinenpistolen waren auf sie gerichtet.
    »Sieh da, unser Herr Pfarrer«, sagte einer mit hartem schlesischem Dialekt. Er trug eine Wolfsfelljacke und auf dem Kopf einen russischen Helm. »Dachte, Sie wären schon lange heim ins Reich geflogen.«
    Ein anderer sagte ein paar knappe Worte auf Russisch. Die vier lachten.
    »Der Pfarrer braucht kein Flugzeug. Er fliegt mit dem heiligen Geist.«
    Der Pfarrer lächelte furchtsam. »Ich bringe euch noch ein letztes Geschäft.«
    »Erst mal die Waffen!«
    Ein Russe mit mongolischen Ge sichtszügen, der eine pelzgefütterte deutsche Majorsjacke trug, an der eine Schulterklappe fehlte, nahm ihnen die Waffen ab, während die anderen wachsam in sicherem Abstand blieben. Erst nachdem sie gründlich durchsucht worden waren und man ihnen sogar die Taschenmesser abgenommen hatte, kam der, der Deutsch gesprochen hatte, näher. Mit sachkundigen Griffen untersuchte er eine ihrer russischen Beute-MPis.
    »Braucht ihr Munition für die Dinger? Haben wir gestern frisch reingekriegt. Na, kommt erst mal mit zum Chef.« Er stapfte vor ihnen über die vereisten Trümmer.
    »Woher kann der verdammte Russe so gut Deutsch?«, flüsterte Rollo Fritz zu.
    »Der verdammte Russe kommt aus Breslau, und jetzt halt dein Maul«, erwiderte der Mann, ohne sich umzudrehen.
    Rollo blieb abrupt stehen, Fritz knallte gegen ihn. »Diese Scheißdeserteure arbeiten mit den Russen zusammen!«
    Der Mann, den Rollo gemeint hatte, blieb ebenfalls stehen, drehte sich um und musterte Rollo mit zusammengekniffenen Augen, wälzte etwas Kautabak von einer Backe in die andere, packte Rollo und hob ihn mühelos hoch, sodass dessen Füße über dem Boden schwebten und sie beide auf Augenhöhe waren.
    »Was bist denn du, ’n deutscher Held?« Er lachte kurz und stellte ihn beinahe mitleidig wieder ab. »Also, was is? Wenn ihr weiter wollt, muss ich euch jetzt die Augen verbinden.«
    Jeder nickte zum Zeichen seines Einverständnisses. Rollo wurde als Erstem eine Binde angelegt.
    »Wenn ihr uns abknallt, sollt ihr in der Hölle schmoren!«, sagte er mürrisch.
    Der Schlesier übersetzte es s einen russischen Kameraden. Wieder lachten alle.

 
     
     
     
     
     
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    D ie Männer führten sie zu einem Schachteingang, der mit einer zerschossenen Pak und etwas Geröll ebenso unauffällig wie gut getarnt war. Über Eisenkrampen ging es nach unten.
    Obwohl er nichts sehen konnte, erinnerte dies alles Hans an die Kämpfe in den unterirdischen Rohren der Fabrik. Die Ereignisse damals waren ihm genauso un wirklich vorgekommen wie das Geschehen jetzt. Die Augen der Partisanin. Er konnte sich nicht mehr an die Augen erinnern, nicht mehr an die Farbe. An überhaupt keine Farbe. Er konnte sich an die Worte Blau, Rot, Grau erinnern, aber er verband keine

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