Stalingrad - Die Einsamkeit vor dem Sterben
konnte, dass er noch am Leben war, hatte Hans seine Waffe gezogen und drückte ab. Die anderen starrten ihn entsetzt an.
Hans sah auf das zerschmetterte Gesicht des Toten. Ich muss doch was fühlen, dachte er. Ich habe gegessen, geschlafen, mich gewaschen … Ich muss doch wieder was fühlen.
Aber er fühlte nichts. Nicht einmal eine gewisse Erleichterung, weil ein weiterer Mensch seinen Frieden gefunden hatte.
»Es gibt keine Helden in Stalingrad«, sagte er. »Nur arme Teufel. Gehen wir.«
Er spürte, wie sich das Entsetzen des Pfarrers in scheue Bewunderung verwandelte. Es war die hündische Ergebenheit in diesen wässrigen grauen Augen, die ihm für einen Augenblick klarmachte, wie krank dieser Mensch war. Barsch trieb er ihn vor sich her. Höhnisch verfolgte er Gedankenschritte, die sein Verhalten zu rechtfertigen suchten, die ihm vorgaukelten, es wäre seine Bestimmung, das Leid auf die einzige Art, die hier noch möglich war, zu lindern. Er kannte sich besser. Oder waren es nur seine Hände, die töteten? War es nur eine gestörte Chemie seiner Empfindungen, die ihn immer hemmungslosere Freude an Schmerz und Zerstörung empfinden ließ? Glaubte er, so den Tod überwinden zu können, eins zu werden mit den Resten der Welt?
Lächerlich, kindisch kam es ihm plötzlich vor, eines erwachsenen Menschen unwürdig. Und doch half es, wenigstens kurzzeitig die kalten Panzerplatten zu sprengen , die seine Gedanken, seine Empfindungen zusammenquetschten, bis nur graue Gleichgültigkeit zurückblieb. Eine Gleichgültigkeit, aus der ihm nur noch das Töten heraushalf, in immer kürzeren Abständen.
Gross hatte recht gehabt, es war die einzige Droge, die das Blei in ihren Körpern noch verflüssigte. Und doch schritt er aus, auf der Suche nach Rettung, verbarg sei ne Sucht hinter rationalen Handlungen. Welche Komödie würde er erst zu Hause, in der viel geliebten Heimat spielen müssen? Würden ihm da seine Hände wieder gehorchen? Brav den Bleistift in irgendeinem Kontor fassen? Glaubte er tatsächlich, seine Sucht ebenso leicht abstreifen zu können wie seine Uniform?
Ein lautloses Lachen zitterte du rch seine Blutbahn, eine Umlaufbahn des Entsetzens, die ihn ebenso unerreichbar umkreiste wie ein Mond seinen Planeten. Auf Entzug, verkatert und missmutig würde er in wohlanständiger Behaglichkeit kauern wie ein Tier in seinem Käfig. Verlogene Ideale nachplappern, die nur dazu dienten, das Vergangene zu verschleiern und unbemerkt auf das Zukünftige vorzubereiten. Eine seelenlose Larve, ein Opfer des Krieges.
Und doch wollte er sich erha lten, um jeden Preis. Der Grundtrieb des Überlebens verhöhnte jede Vernunft. War das noch er, der hier dem Überleben entgegenschritt? Er hatte doch längst nichts mehr mit sich zu tun. Selbst die an sich richtige und mutige Idee des Desertierens wurde durch seine psychischen Beschädigungen entstellt und verzerrt.
Im Takt seiner Schritte glaubte er ein Kinderlied zu hören, falsch und undeutlich. Hänschenklein … E r konnte sich an die ersten Zeilen erinnern … ging allein … Die Stimme seiner Mutter … in die weite Welt hinein … Ihre zarten weißen Knie, die herzförmigen Kniescheiben, die ihre Haut spannten, bei jedem Schritt. Ein ausgedehnter Spaziergang über die heimischen Besitzstände. Er hatte sich ins Gras fallen lassen und versucht, unter ihren Rock zu schielen. Sie hatte es mit einem hellen Lachen quittiert.
An den Rest des Liedes konnte er sich nicht mehr erinnern. An das Gesicht seiner Mutter auch nicht. Nur an ihre Knie. An ihre Knochen. An viele Knochen. Er ging mit ihr über ein weites Feld, und das wogende Getreide erstarr te zu Eis. Wurde zu jener Steinwüste, die er gerade durchschritt. Sein kleiner ausgestreckter Arm wies auf verkohltes Geröll, zwischen den schneebedeckten Steinen wuchsen Arme und Beine. Schau mal, Mama.
Seine Kinderstimme versetzte ihm einen heftigen Stich. Die Töne wiederholten sich, falsch und abgehackt.
Fritz und Rollo blieben stehen, wichen seinem Blick aus.
»Hör schon die Engel …«
»Engel haben Harfen«, sagte Hans. »Das ist ein Klavier.«
Die Melodie lag auf ihrem Weg. Hinter der nächsten Ruinenecke sahen sie einen Konzertflügel. Er sah aus wie die abgebrochene Schwinge eines Riesenvogels mitten im Geröll. Dahinter kauerte ein zerlumpter Soldat und spielte mit der linken Hand. Die rechte hatte er verloren, ein blutiger Verband bedeckte den Stumpf. Um ihn herum standen ungefähr zehn völlig verwahrloste
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