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Stalingrad - Die Einsamkeit vor dem Sterben

Stalingrad - Die Einsamkeit vor dem Sterben

Titel: Stalingrad - Die Einsamkeit vor dem Sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Fromm
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Vorstellung mehr damit. Sein Gedächtnis war farbenblind geworden und ohne Zeit. Die Binde vor seinen Augen presste die Dunkelheit vollständig in ihn hinein.
    Er versuchte sich an die helle Er regung zu erinnern, an die sexuelle Lust, die die Todesfurcht damals in ihm erzeugt hatte, doch es gelang ihm nicht, dieses längst vergangene Gefühlskarussell wieder in Gang zu setzen. Seine Vorstellungswelt war ausgelöscht, leer. Es war wie ein ständiges Ersticken in dem Bewusstsein, dass die Qual kein Ende nehmen würde.
    Er hatte einmal eine Vorahnung von diesem Zustand gehabt, nicht im Krieg, in Friedenszeiten, und er war vor ihm ins Gefecht geflüchtet, aber er war ihm nicht entkommen. Unbemerkt war die Leere weitergewachsen und legte sich jetzt, da er die notwendigsten Bedürfnisse seines Körpers gestillt hatte, wie ein gewaltiger Schatten erneut über ihn.
    Die Luft bestand aus scharfkantigen Kristallen, die seinen Leib zerschnitten, der sich immer wieder willkürlich zusammensetzte, ohne Ende, ohne dass er schrie oder sonst irgendeine Reaktion zeigte, weil etwas in ihm wusste, dass jegliche Gegenwehr zwecklos war, bis alles in eine neue, noch tiefere Gleichgültigkeit mündete. Er hatte nie gelebt. Er war schon immer tot gewesen. Und jetzt kehrte er in die Hölle zurück.
    Die Hölle bestand aus einem schmalen, schulterhohen Gang, der offenbar durch mehrere Keller führte. Hinter einer noch intakten Stahltür, die auf ein Klopfzeichen hin geöffnet wurde, standen in zwei versetzten Nischen russische MGs, und dahinter kauerten zwei in Pelzmäntel gehüllte, rauchende Männer. Einer trug die schwarze Mütze der deutschen Panzertruppen. Den Neuankömmlingen wurden die Binden abgenommen.
    Am Ende des Ganges befand sich eine weitere, von zwei Posten gesicherte Tür. Der Schlesier und seine drei Kameraden übergaben den Posten die Waffen der deutschen Deserteure. Hinter der Tür schlugen ihnen Hitze, Zigarette nqualm und grölender Gesang entgegen.
    Wie durch einen Zerrspiegel stierten sie auf eine Anhäufung von Biedermeiermöbeln, Kisten un d Regalen. Geblümte Gardinen umrahmten auf die Holzvertäfelung gemalte Fenster, dazwischen hingen teilweise gesprungene Spiegel und ein Filmplakat von einem Christina-Söderbaum-Film. Auf einem Rosenholztischchen, dem zwei Beine fehlten, lagen Aktzeichnungen.
    Aus einem Nebenraum plärrte undeutlich ein Grammophon mit Tangomusik gegen einen betrunkenen Kosaken-Hetman und zwei rumänische Deserteure an, die an einer aus Munitionskisten improvisierten Theke saßen. Die Rumänen versuchten in ihrer Sprache das russische Lied mitzusingen.
    Daneben spielten zwei Männer in Armeehosen und zivilen Jacketts Schach, auch sie in einem Zustand, der ihnen nur noch Züge in größeren Zeitabständen erlaubte. Auf dem Fußboden, der in mehreren Lagen mit Teppichen und Tierfellen bedeckt war, lag ein Dutzend Schnapsleichen zwisc hen leeren Flaschen, Zigarettenasche, Konservendosen und Essensresten.
    In einer Ecke glühte ein großer Ofen aus Gusseisen. Daneben ein Podest mit einem geschnitzten Schaukelstuhl darauf. In dem Stuhl saß ein großer, massiger Mann, der als Einziger im Raum bewaffnet war; in seinem Gürtel steckte eine großkalibrige Pistole. Über einem fleckigen Rüschenhemd trug er einen altmodischen dunklen Rock, darunter eine weite Hose und Filzpantoffeln. Von seinem Gesicht waren nur die bla sse zerfurchte Stirn und die Augen zu sehen, der Rest war von einem pechschwarzen Bartgestrüpp überwuchert. Neben ihm stand ein Serviertischchen und darauf ein Kochgeschirr mit Kaffee und eine Flasche Schnaps.
    »Das ist Petroff, der Chef«, sagte der Schlesier. »Besprecht alles mit ihm.«
    Der Pfarrer winkte den dreien mitzukommen. Verwirrt folgten sie ihm. Sie konnten nicht so recht glauben, was sie hier sahen. Ein seltsames Paradies in den Katakomben des Krieges. Ohne sie anzusehen, begann der Mann auf dem Podest mit einem starken russischen Akzent zu sprechen. Mit seinem Kehlkopf stimmte etwas nicht; er konnte nur noch flüstern.
    »Ej, ej, Gottesmann, du noch hier?« Seine Hand packte die des Pfarrers und führte sie in sein Ha ar. »Schauen! Immer nur ein einzige grau Haar. Du finden mehr? Los, sehen!« Es schien ein Begrüßungsritual zwischen den beiden zu sein.
    Der Pfarrer suchte, fand aber kein graues Haar. Nur Läuse. Petroff grunzte zufrieden.
    »Stimme kaputt, Haare gut. Ich nicht werde sterben.« Er lachte und musterte Hans, dessen Haar längst nahezu weiß geworden war.

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