Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Stalingrad - Die Einsamkeit vor dem Sterben

Stalingrad - Die Einsamkeit vor dem Sterben

Titel: Stalingrad - Die Einsamkeit vor dem Sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Fromm
Vom Netzwerk:
die letzten Wochen fast ausschließlich von seinen Tauschaktionen gelebt, und das nicht schlecht. Ein kleiner Gegenstoß zur Fliegerschule, zu den zwei Fieseler Störchen, und sie waren raus. Der Generalleutnant ließ seit drei Tagen jeden greifbaren Mann für dieses letzte militärische Unternehmen einsammeln. In der Heimat, dachte der Pfarrer, werde ich Gott wiederfinden.
    Hans füllte sich erneut das Glas. Sein Körper schmerzte unter der alltäglichen Bewegung, und kalter Schweiß kroch ihm aus den Poren. Alles war unerträglich banal, schal, abgestanden. Er wollte sich noch etwas Schnaps nachgießen, aber allein die Vorstellung einer erneuten Bewegung lähmte ihn. Ich habe Fieber, dachte er, aber es war kein Fieber. Im Gegenteil, je besser es seinem Körper ging, umso mehr hasste er sich.
    Der Alkohol half nicht. Seine Gedanken verzerrten sich, wurden klein und plastisch wie die Gegenstände im Raum, und auf unerfindliche Art wanderte jeder dieser Gedanken in einen Gegenstand, wo er gefangen wie in einem Reagenzglas saß. Die Führung beseitigen, die Mannschaften retten … Jetzt kauften sie mit ihren Eheringen einen letzten Fick. Warum auch nicht, warum nicht? Besser, als im Matsch versunken. Besser, als im Eis verloren. Warum nicht? Bisschen geschrumpft, unsere Ideale, dachte er. Schrumpfkopfideale. Wenn ich nur endlich ein Tier sein könnte, ein herrlich unschuldiges, herrlich vollkommenes Tier. Ohne Gewissen, ohne Schuld, ohne die verdammte Schuld. Rettung …
    Er konnte nicht mal sich selbst helfen. Er konnte nicht einmal mehr ruhig auf einem Stuhl sitzen. Sein Kopf war wie ein leerer Raum ohne Möbel. Uneingericht et. Ich muss mich mit den Staubflocken auf dem Fußboden begnügen, dachte er, und er hatte das irrsinnige Bedürfnis, sich zu einer Kugel zusammenzuballen und durch die Wand zu rollen. Selbstmord. Wieso nicht endlich Selbstmord?
    Ich will mich doch gar nicht töten. Ich hasse mich viel zu sehr, um mich zu töten. Ich will mich quälen, mich leiden sehen …
    Jetzt ist es genug … Ein wenig Gnade …
    Er tastete nach seiner Waffe, doch die hatten sie ihm abgenommen. Er hatte nicht einmal mehr ein Taschenmesser bei sich. Darüber musste er so laut lachen, dass der Schädel des Kosaken-Hetmans erschrocken von der Tischplatte hochzuckte. Er sah das Gesicht seines Gegenübers und begann ebenfalls zu lachen, schlaftrunken und verwirrt, und sein Lachen stieß Hans vom Tisch weg wie ein Magnet mit identischem Pol, und er streifte unruhig im Raum auf und ab, dessen Wände ihn zu zerdrücken schienen.
    Der Kopf des Russen sank erschöpft auf die Tischplatte zurück. Hans betrachtete ihn angewidert. Er hasste all die schlafenden, schnarchenden, weit offen stehenden Mäuler. Sie hatten Gleiches oder Ähnliches erlebt wie er. Wie konnten sie da schlafen? Seine Hassgefühle wurden so unkontrol liert, dass er die Fäuste zusammenballte und sich die Knöchel in den Mund schob, um nicht in diese schlafenden Schädel zu treten, durch diese Mäuler zu stapfen. Kadaver, schnarchende Leichname, tot, verwest!
    Er hörte ihre Zähne splittern wie Glas. Mit schief gelegtem Kopf lauschte er dem Splittern, das anhielt, obwohl er stehen geblieben war. Hatte er es getan? Mit vorsichtiger Neugier blickte er nach unten. Er hatte es nicht getan. Aber das Splittern in seinem Kopf war noch immer da. Es war das kratzende Geräusch einer stumpfen Nadel, die auf dem Ende einer Schallplatte kreiste.
    Das Kratzen brach ab, und er hörte Petroff undeutlich fluchen. Seine Stimme kam aus einer der zahlreichen Nebenhöhlen, die von früheren Bunkerbewohnern als Schlafgelegenheit unter die Erde gehauen worden waren. Hans folgte der Stimme und betrat den Raum.
    Er war kahl bis auf eine verschmierte Matratze und ein altersschwaches Grammophon. Petroff redete auf eine junge Frau ein, die mit ausdruckslosen Augen, das Kinn auf den angezogenen Knien, vor dem Grammophon saß und gegen die leere Wand starrte. Unter einem fleckigen Wehrmachtsmantel mit fehlenden Knöpfen trug sie ein zerknittertes Seidenkleid, das ihr bis zu den Knöcheln reichte und am Saum eingerissen war. Sie war so stark geschminkt, dass Hans im ersten Moment glaubte, sie würde aus dem Mund bluten. Die Schminke war verschmiert und verzerrte ihr Gesicht zu gespenstischer, zerschlagener Schönheit. Wie eine chinesische Porzellanvase, die zerbrochen und dilettantisch wieder zusammengeklebt worden war.
    Der Russe hatte ihn bemerkt und drehte sich um. »Willst du sie?«, fragte

Weitere Kostenlose Bücher