Stalingrad - Die Einsamkeit vor dem Sterben
er. »Sie schreit gut.«
Die junge Frau wollte mit einer mechanischen Bewegung das Grammophon wieder in Gang setzen. Durch die Entbehrungen war sie so abgemagert, dass sie den Körper eines Kindes hatte. Petroff schlug mit einem Fluch ihre Hand beiseite und hob den Plattenspieler vom Boden auf.
»Komm«, sagte er zu Hans. »Sie nix gut. Nix ficken, nur Musik, Musik und tanzen! Wir sie geholt und gemacht gesund.« Er riss ihr den Mantel mit einem Ruck von der Schulter und zeigte Hans einen frischen Verband. »Jetzt nur Kratzer, aber sie undankbar, nix essen, Haut und Knochen, niemand will ficken sie.« Er fasste Hans am Ellenbogen. »Komm.«
Hans schüttelte Petroffs Hand ab und starrte die Russin an. Sie war aufgestanden und drehte sich langsam im Kreis. Ihre Bewegungen hatten etwas von einer Gardine, die an einem offenen Fenster weht. Auf einmal erkannte er sie.
Es war die Russin aus der Kanalisation, die versucht hatte, ihn zu töten, und die er in seinen Träumen immer wieder getötet hatte, um am Leben zu bleiben.
Petroff versuchte erneut, ihn aus dem Raum zu ziehen. »Komm! Sie liebt nicht Männer.« Er blinzelte Hans vertraulich zu. »Sie liebt nur Pistole.«
»Ich weiß«, sagte Hans. Seine wirren, erschöpften Gedanken wurden auf einmal ganz klar. Er würde dieses Mädchen besitzen. Noch einmal. Dann würden sie gemeinsam sterben. Er hatte nicht sterben können, solange sie lebte. Sie hatte ihn am Leben erhalten und durch dieses Weiterleben gefoltert. Sie hatten aufeinander warten müssen, jeder auf seine Ar t. Jetzt würden sie sich voneinander erlösen.
Sein Wahnsinn formte den Zufall zum Schicksal. Es war, als hätte eine teuflische Fügung ihm dieses st arre Gesicht überlassen, an dessen Augen jeder Blick abprallte, damit er wenigstens seine kleine, jämmerliche, ganz private Rache bekam, als kümmerlichen Ersatz für die große, unermessliche Vergeltung, die er nie auszuführen imstande gewesen war. Das Schicksal verhöhnte ihn bis zuletzt.
Er sagte dem Russen, dass er das Mädchen als Geisel wolle, und kaufte sie für die Ringe und das Zahngold, das er noch besaß. Er redete, lachte, feilschte mit völlig normaler Stimme. Auf einmal wurde es ihm klar. Diese Normali tät war Traum geworden, er existierte nur noch in seiner eigenen, anderen Welt. Er wusste, dass er verrückt war, aber es machte ihm nichts aus. Wenn nur die schwarzen Mauern nicht mehr in seinen Kopf zurückkehrten.
Petroff schien froh, das Mädchen loszuwerden.
Hans weckte die beiden anderen. Er eröffnete ihnen grinsend, dass sie ihre Nummern verschlafen hätten, und gab Befehl zum Aufbruch. Auf einmal war er wieder Vorgesetzter. Beiläufig teilte er ihnen mit, dass er als Geisel eine Frau für sie gekauft habe. Für sie alle.
Rollo fügte sich verschlafen und mürrisch. Ihm wäre die Blonde eindeutig lieber gewesen, auch wenn sie Stalin hieß. Fritz war es egal. Die plötzliche Aufgekratztheit seines Leutnants hatte etwas Seltsames, Überspanntes. Sie war noch schlimmer als sein tiefes, dumpfes Brüten. Mit einem Mal war Hans ihm wieder völlig fremd. Als sei eine andere Persönlichkeit in seinen Körper geschlüpft.
Plötzlich wusste er, an wen Hans ihn erinnerte. Es war der Sturmbannführer, der den SD-Einsatz befehligt hatte. Erschrocken wandte er sich ab. Er hatte kein Recht, so etwas zu denken. Und doch wusste er, dass es stimmte.
Er hörte, wie Hans mit dem Russen noch einmal den Treffpunkt abmachte. Ihre Waffen erhielten sie zurück. Der Pfarrer hatte mit ihnen zu kommen. Hans würde ihn erst laufen lassen, wenn sie hier raus waren. Er machte alles richtig. Was er sagte, klang völlig vernünftig. Auf einmal schien er voller Mut und Zuversicht. Und genau das war entsetzlich. Wir müssen hier raus, dachte Fritz, so schnell wie möglich.
Auch Hans drängte zum Aufbruch. Die Verzweiflung, die ihn gelähmt hatte, war ins Gegenteil umgeschlagen. Besessen von einer krankhaften Energie, einer manischen Fröhlichkeit, trieb er mit skurriler Präzision seinem Vorhaben entgegen, wie ein Priester, der berauscht von seinem Glauben bedenkenlos Menschenopfer bringt.
Ohne es zu wissen, befand er sich endlich auf einer Stufe mit seinem Führer. Sein Altar war zwar etwas kleiner, aber das Ritual nicht weniger grausam. Die Gegenstände um ihn her wurden leicht, durchsichtig, er nahm seine Umgebung nicht mehr richtig wahr und reagierte trotzdem mit gespenstischer Perfektion auf sie. Er hatte das Gefühl, durch Wände g ehen zu
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