Stalingrad - Die Einsamkeit vor dem Sterben
schlechte Verlierer«, sagte Gross, »deswegen haben wir die Religion erfunden.«
Musk ließ ein Lachen hören, das wie abgehacktes Schnarchen klang. »Was macht dein Gewissen zurzeit, Otto?«
»Ich hab’s an der Kriegsgarderobe abgegeben. Aber du weißt ja, es ist ein tückisches Mäntelchen, man wird es nicht so leicht los.« Er zog seinen Arm zurück und erhob sich.
»Bleib«, flüsterte Musk. »D eine Gedanken sind wie immer äußerst unterhaltsam.«
Gross schüttelte den Kopf. »Es ist aus, Hermann«, sagte er, »kein Gedankenrausch mehr, keine Fantasie, keine Vision. Keine Religion, auch keine des Todes. Weder Vaterland noch Hölle, weder Würde noch Tapferkeit.« Er zeigte sein schwarzes Lächeln. »Schluss mit dem Schamanentum. Ich will endlich alles so beschissen und elend ertragen, wie es ist. Vielleicht komm ich dann zum Ende, vielleicht dann.«
»Du willst es immer besonders schwer haben. Eitel bis zuletzt.«
Gross ging zu den anderen zurück.
»Du entkommst mir nicht«, flüsterte Musk ihm hinterher. »Du nicht.« Er richtete sich noch einmal auf, starrte die anderen mit glasigen Augen aus der Dunkelheit heraus an. »Lasst uns zusammen rausgehen«, keuchte er. »Lasst uns einen ehrenvollen Tod …« Er sank zurück. »Wo ist die HKL?« Seine Augen schlossen sich, seine hohle Stimme hallte durch das Gewölbe. »Ich … verlange … ordentliche Meldungen … Rohleder, Sie sind mein bester Soldat … Wir sterben gemeinsam …«
Rollo presste sich die Hände auf die Ohren, drehte sich um und stierte auf die gegenüberliegende Wand, die die gleiche Farbe hatte wie das Gesicht des Hauptma nns. Das Schlimmste war die Rumsitzerei. Fast noch schlimmer als Hunger und Kälte. Er hatte plötzlich das unheimliche Gefühl, dass ihn die Zeit betrog. Je näher der verdammte Ausbruch rückte, umso länger schien es bis dahin zu dauern.
»Was machen wir morgen mit ihm?«, fragte Fritz plötzlich. Allen war klar, dass er den Hauptmann meinte.
Rollo drehte sich um und blickte ihn feindselig an. »Wir nehmen ihn mit.«
»Dreihundert Kilometer durch den Schnee?«
»Ich werde ihn erschießen, bevor wir gehen«, sagte Gross.
»Das wirst du nicht«, sagte Rollo.
»Wir reden morgen noch mal darüber«, sagte Gross.
Hans beobachtete die Russin. Sie saß zwischen den Männern, als existierten sie nicht. Auf ihre Auseinandersetzungen reagierte sie mit keinem Wort, nicht einmal mit einem Blick. Sie war nicht schön. Er begehrte sie nicht. Ihr Äußeres schien ihm ebenso abstoßend wie sein eigenes, für das sich glücklicherweise kein Spiegel fand. Aber es war nicht nur das. Der Ekel, das Entsetzen vor sich selbst übertrug sich auf sie. Er hasste sie für das, was er ihr hatte antun wollen. Und er schämte sich.
Sie zog eine kleine Holzkette aus ihrem Stiefel und begann mit den Perlen zu spielen. Ein mechanisches Ritual, das ihre Gedanken ihrer Umgebung zu entziehen schien.
Hans erinnerte sich nur noch bruchstückhaft an das, was zwischen ihnen vorgefallen war, er wusste nur, dass es nicht wieder geschehen durfte. Er stand auf, ging um den Tisch und setzte sich neben sie. Was sollte er ihr sagen? Sie um Verzeihung bitten? Ihr sagen, dass er versucht hatte, die anderen daran zu hindern?
»War es schlimm?«, murmelte er.
Sie schwieg zunächst, doch als er nach einer Zeit, die ihm quälend lang erschien, aufstehen und gehen wollte, zuckte sie mit den Schultern und sagte: »Das Essen war gut.« Und dann, wieder nach langen Minuten: »Es ist einfacher, sich von Deutschen vergewaltigen zu lassen, als von Russen.«
Sie saßen nebeneinander, ohne einander anzusehen, aber er hatte das Gefühl, dass auch sie nicht länger allein sein konnte und mit jemandem reden wollte, selbst wenn es ein Feind war. Selbst wenn er es war.
»Ich wurde verwundet«, sagte sie schließlich stockend. »So haben sie mich gekriegt. Ich dachte, sie würden mir helfen. Wenn es Deutsche gewesen wären, hätte ich mich gleich erschossen. Das habe ich mir jedenfalls immer gesagt.«
Er hoffte, dass sie weitersprechen würde, aber sie tat es nicht. Die Perlen der Holzkette glitten mechanisch durch ihre Finger.
»Ist sie von deinem Freund?«
»Nein.« Sie wandte ihm kurz das Gesicht zu, und hinter der Maske des Krieges sah er die Reste des jungen, schwärmerischen, vielleicht sogar ein wenig weltfremden Mädchens, das sie einmal gewesen war. »Mein Vater hat sie mir geschenkt. Er ist letztes Jahr gefallen. Eigentlich hatte ich viel zu viel
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