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Stalingrad - Die Einsamkeit vor dem Sterben

Stalingrad - Die Einsamkeit vor dem Sterben

Titel: Stalingrad - Die Einsamkeit vor dem Sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Fromm
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Angst, um zu kämpfen. Ich bin nur wegen ihm gegangen. Ich musste es tun. Er hätte es so gewollt. Manchmal habe ich ihn dafür gehasst. Ich habe versucht, tapfer zu sein, weil er tapfer war.«
    Er betrachtete das bleiche, ausgemergelte Gesicht, die von einem Netz feiner Falten überzogene Haut, die le icht nach oben geschwungene Nase, das spitze Kinn, die Augen, die er die ganze Zeit für grau gehalten hatte und von denen er nun feststellte, dass sie grün waren. Wenigstens manchmal.
    »Hattest du nie jemand?«, fragte er. »Vor dem Krieg?«
    Sie zögerte. »Mein erster Mann war ein General.« Ihre Stimme klang so spröde und flach, als würde sie nicht über sich, sondern über eine flüchtige Bekannte sprechen. »Wir kamen von einem Angriff zurück, auf der Flucht. Wir waren wieder einmal geschlagen worden. Der General ließ uns antreten, nahm seine Pistole und erschoss jeden Zehnten. Als er bei mir ankam, sagte er: ›Du nicht.‹ Dafür hat er den Nächsten erschossen. In der Nacht hat er mit mir geschlafen. Es ging schnell und tat weh. Er sagte: ›Morgen werdet ihr nicht zurückgehen, sondern die Deutschen schlagen.‹ Er hatte recht. Ich bekam einen Orden und wurde Scharfschützin …«
    Sie brach ab. Ihre Augen verengten sich wieder, wie Linsen, in die zu viel Licht gefallen war. Sie stand auf und ging weg.
    Er sah ihr nach. Obwohl sie es nicht wahrhaben wollte, hatte auch sie begriffen, dass es in beiden Ländern, gleichgültig, wie der Krieg ausgehen würde, die gleiche Art von Siegern und Besiegten geben würde.
    Sie setzte sich auf eine der Kisten an der Wand und lehnte sich erschöpft zurück. Er wollte zu ihr g ehen und ihr sagen, dass sie ruhig nach hinten gehen könne, dass er aufpassen würde, aber dann ließ er es. Sie hatte keinen Grund, ihm zu glauben.
    Er sah sie an und versuchte sie sich in einem hübschen Kleid vorzustellen. Es fiel ihm schwer. Darüber musste er lächeln.

 
     
     
     
     
     
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    F ritz wachte als Erster auf. Die Feuer glühten nur noch. Der Raum war voll von kaltem Qualm und dem Gestank der Männer. Er schob Rollo zur Seite, der irgendwann neben ihn gekrochen war, und kniete neben den Pfarrer, der als Einziger noch eine funktionierende Uhr besaß. Sie mussten los.
    Er rüttelte Rollo, bis er erwachte. Gemeinsam stiegen sie die Treppe nach oben und spähten d urch die Barrikaden. Es war niemand zu sehen. Sie entfernten den Stolperdraht zu der Handgranate, schlichen ins Freie. Es war dunkel und sehr kalt. Nach wie vor lag eine gespenstische Stille über der Stadt, kaum von einzelnen Gewehrschüssen durchbrochen. Vielleicht würden die Russen einfach warten, bis sie alle verhungert und erfroren waren.
    Der Lastwagen war noch da. Sie gingen zurück, weckten die anderen, machten dann Feuer unter dem Bodenblech und verluden die Lebensmittel auf die Ladefläche. Selbst der Arzt half, obwohl er so stark zitterte, dass ihm die Kisten mehrmals aus den Händen glitten. Den Hauptmann und die Russin ließen sie mit den restlichen Ampullen zurück, ohne dass jemand ein Wort darüber verlor.
    Wenig später steuerte Fritz den Lastwagen durch die Ruinenstraßen. Der Pfarrer saß neben ihm und sah immer wieder auf die Uhr.
    »Mal sehen, ob Sie Ihr Flugzeug noch erwischen«, sagte Fritz. Der Pfarrer antwortete nicht.
    Hans und Rollo saßen mit Maschinenpistolen bewaffnet auf dem Verdeck und verteidigten die Ladung gegen herumstreunende, ehemalige deutsche Soldaten. Das war verhältnismäßig einfach, da die meisten nicht mehr in der Lage waren, zwei gerade Schritte hintereinander zu tun.
    Nur einmal, als die Straße ansti eg und die Räder kurz durchdrehten, kam es zu einem kleinen Zwischenfall. Zwei Soldaten sprangen hinter einem Schuttberg hervor und klammerten sich an den Verschlag. Rollo trat ihnen die Hände weg. Als Antwort schlug neben Fritz eine Kugel durch die Scheibe. Rollo und Hans feuerten in die verrammelten Eingänge, einige zerlumpte Soldaten am Straßenrand hoben mechanisch die Hände.
    Sie fuhren an dem von ihnen eroberten Geheimlager der Feldgendarmen vorbei. Die Straße und der Hof um den ausgebrannten Panzer waren mit erschossenen und grausam verstümmelten deutschen Soldaten bedeckt. Sie waren beim Plündern überrascht und von den eigenen Leuten aus Rache für die getöteten Spießgesellen ermordet worden. Ein letztes sinnloses Exempel zur Aufrechterhaltung der Hackordnung. Einige hielten noch ein Stück Brot oder eine Konserve in der erfrorenen Hand. Die

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