Stalingrad - Die Einsamkeit vor dem Sterben
er.
»Ich hätte mich töten müssen, ich kann nicht mehr leben«, flüsterte sie.
»Das habe ich auch geglaubt. Wir haben beide den richtigen Zeitpunkt zum Sterben verpasst. Wir haben geglaubt, wenn es unerträglich wird, wird die Verzweiflung die Angst besiegen. Aber das stimmt nicht. Je schlimmer es wird, umso größer wird auch die Angst. Jetzt sind wir beide zu schwach, um uns zu töten.«
Sie starrte mit leeren Augen a uf ihr blutverschmiertes Kleid.
»Vielleicht kriege ich ein Kind von diesen Schweinen«, sagte sie tonlos. »Das wäre das Schlimmste.«
Dann sagte sie nichts mehr. Ihr Körper fiel wiede r in eine totenähnliche Starre, und ihre Gedanken flogen weit fort.
Hans deckte sie zu und ging. Er konnte ihren Anblick nicht länger ertragen. Und vor allem nicht die Gefühlsreste, die in ihm aufzutauen begannen. Es hatte nicht wirklich mit ihr zu tun. Die Zuneigung, die er jetzt empfand, war ebenso krankhaft wie vorhin sein Hass. Er floh vor ihr und kehrte zu den anderen zurück.
Beinahe dankbar hörte er ihre rauen Stimmen. Der Arzt und der Pfarrer waren nebeneinander eingeschlafen, die anderen saßen immer noch beim Kartenspiel. Katastrophen jeglicher Größenordnung waren für sie so normal geworden, dass sie die Geräusche aus dem Nebenraum ignoriert hatten. Fritz und Gross philosophierten mit schweren Zungen, Rollo sackte immer wieder das Kinn auf die Brust.
»Unterbrech nicht dauernd unseren Spielfluss, Verlierer! Pik ist Trumpf.«
Rollo öffnete verschlafen die Augen und spielte sofort aus. Dann schüttelte er sich. »Ich hab vielleicht ’n Scheißtraum gehabt. Ich hab geträumt, ich muss pissen, aber ich konnt nicht, weil ich geschlafen hab. Ein Scheißtraum war das!« Er bemerkte Hans, der sich abseits auf eine Kiste gesetzt hatte und das Gesicht in den Händen vergrub. »War besser als pissen. Oder, Herr Leutnant?«
Hans antwortete nicht. Gross bedeutete Rollo, ruhig zu sein.
»Ich werd ihr schon beibringen, nett zu euch zu sein«, murmelte Rollo schließlich und wollte hinter der Zeltbahn verschwinden.
Hans fuhr herum, sprang auf, zog seine Pistole. »Von euch rührt sie keiner an! Versteht ihr? Keiner!«
Rollo drehte sich um, sah die auf ihn gerichtete Pistole und seufzte. »Ach, Scheiße, was soll das denn jetzt?«
»Es ist mein Ernst. Keiner geht nach hinten!«
Gross begann leise zu kichern.
»Is ja gut«, meinte Fritz. »So wichtig ist das nicht.«
Rollo starrte ihn entgeistert an. »Was heißt, so wichtig ist das nicht?«
»Komm, geh du erst mal pinkeln. Geh schon!«
Rollo verzog sich widerwillig i n den hinteren Teil des Raumes.
Fritz näherte sich Hans, ohn e auf dessen Pistole zu achten.
»Kommt schon alles in Ordnung«, sagte er freundlich.
Dann rammte er Hans die Faust gegen das Kinn und fing ihn auf, als er bewusstlos umkippte. Er nahm ihm die Pistole aus den Fingern und bettete liebevoll seinen Kopf auf eine Decke. Dabei erinnerte er sich wieder daran, wie er seinen Leutnant damals aus der Kanalisation gezogen hatte. Seitdem hatte sich alles verändert, nur eines nicht: Er wusste noch immer nicht genau, warum er ihn eigentlich mochte. Vielleicht deshalb, weil er dauernd Hilfe brauchte.
»Nach all dieser Scheiße verknallt er sich auch noch«, murmelte er. »Ein Mensch allein kann sich’s nicht vorstellen. Selbst, wenn er hundert Jahre alt wird und jeden Tag von morgens bis abends drüber nachdenkt, er kann sich’s nicht vorstellen.«
Gross stand auf und zog sich in das Halbdunkel neben Musks Lager zurück, als erwartete er, dass der Tod, der sich dort befand, nicht nur die Kehle des sterbenden Hauptmanns, sondern auch seine irgendwann zudrücken würde.
Rollo trat mit offener Hose neben Fritz. »Also eigentlich bin ich jetzt dran. Oder willst du zuerst?«, krächzte er in die Dunkelheit.
»Tu dir keinen Zwang an«, knurrte Gross.
»Aber ihr geht nachher auch. Sonst sind wieder alle gegen mich.«
»Ja, ja …«
Rollo verschwand mit einem Stück Seife hinter der Zeltbahn. Der Arzt und der Pfarrer begannen synchron zu schnarchen, Fritz hieb auf die Tischplatte, und sie hörten damit auf.
»Freut mich jedenfalls«, sagte er zu Gross, dessen Gesicht nur ein undeutlicher Fleck in der Dunkelheit war, »dass du diesmal dabei bist, wenn wir abhauen.«
Gross sah blinzelnd auf. Seine Hände zitterten, als er ein Stück Holz nahm, nach dem Messer griff und zum ersten Mal seit langer Zeit wieder zu schnitzen begann. Er war ungeschickt, das Messer war stumpf
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