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Stalingrad - Die Einsamkeit vor dem Sterben

Stalingrad - Die Einsamkeit vor dem Sterben

Titel: Stalingrad - Die Einsamkeit vor dem Sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Fromm
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auf seine Lum pen, seine mit Läusebissen übersäte Haut und wäre am liebsten weggelaufen.
    Sie zog einen silbernen Löffel aus ihrem Stiefel, den er bisher noch nicht gesehen hatte, und begann zu essen. »Möchtest du auch etwas?«
    Er schüttelte den Kopf, aber schließlich lächelte er verlegen. »Ist das derselbe Löffel wie damals?«
    »Ja. Er ist von zu Hause. Aus Si lber. Ich habe ihn heimlich mitgenommen. Meine Mutter hat es sicher erst an Neujahr bemerkt. Sonst wurde das Service nie benutzt.« Sie zeigte ihm den Löffel. »Hier, das sind die Anfangsbuchstaben ihres Namens.« Dann tauchte sie den Löffel erneut in die Fleischkonserve. »Es ist ein langer Weg. Du musst etwas essen.«
    Sie schwiegen, aßen und lauschten dem Geschützfeuer . Neue Einschläge erschütterten das Gebäude. Der Boden schwankte, Putz und Staub rieselten ihr ins Haar.
    »Wenn man hier etwas sagen will, muss man es schnell tun«, flüsterte sie. »Man weiß nie, wie lange man noch Zeit dazu hat.« Er spürte ihren Atem, ihre Augen schwankten unter einer neuen Detonation dicht vor seinem Gesicht. »Ich habe mir geschworen, dass du hier stirbst, ohne meine Vergebung zu erlangen …«
    Unter einem schmetternden Schlag rieselte es erneut von der Decke. Panzer. Sie lächelte und zupfte ihm etwas Putz aus dem Haar.
    »Ich kann dir nur für ein paar Stunden verzeihen, verstehst du?« Sie sprach mit einem seltsamen Ernst, der ihn rührte und ihm zugleich ein wenig peinlich war. Ihr schien es ähnlich zu gehen.
    Er nahm sie vorsichtig in die Arme, als würde ihr Körper aus Glas bestehen. Sie zuckte zurück u nd begann heftig zu zittern. Erschrocken sahen sie sich an, als müssten sie erst wieder begreifen, dass sie einander nichts tun wollten. Immer noch zitternd, kam sie in seine Arme zurück. Ihr Haar roch nach Nässe und Rauch. Unter den Kleidern spürte er ihre Knochen, und er wusste, sie umarmten nicht einander, sondern ihre zerstörten Erinnerungen.
    Als hätte sie seinen Gedanken erraten, löste sie sich von ihm. Er gab ihr einen zarten Kuss auf die gesprungenen Lippen. Sie zuckte zusammen, die Berührung tat ihr weh.
    »Nimm lieber meine Hand«, flüsterte sie.
    Er tat es. So blieben sie sitzen.
    Ich muss sie nach ihrem Namen fragen, dachte er irgendwann, ich darf es nicht vergessen.
    Aber dann sagte er sich, dass er kein Recht dazu hatte, und auch sie vermied es, ihn beim Namen zu nennen.

 
     
     
     
     
     
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    F ritz und Gross hatten die benötigten Uniformen gefunden. Während über ihnen der letzte Kampf um die Ruinen des Nordkessels tobte, pirschten sie sich hinter der Russin durch vereiste Rohre und Schächte auf das Wolga-Ufer zu. Die Riemen der mit Lebensmitteln gefüllten Tornister schnitten ihnen in die Schultern. Das Wasser in den durchgebrochenen Kellern war gefroren. Zerplatzte Rohre hingen wie das zerfetzte Gedärm eines Ungeheuers in die dunklen Räume.
    An diesem Ort hatten sie zum ersten Mal gekämpft. Irgendwo hier war Hans der Russin das erste Mal gefolgt.
    Ihre Schritte sind kleiner geworden, dachte er. Als sie einen russischen Doppelposten passieren mussten, erfuhr er doch noch ihren vollständigen Namen: Leutnant Tatjana Nekrassov. In ihren Papieren wurde lobend erwähnt, dass sie zweiunddreißig Deutsche in den Kämpfen um die Stadt getötet hatte. Die beiden Posten verzichteten daraufhin auf die Kontrolle der übrigen Papiere und beschenkten Gross mit amerikanischen Zigaretten. Das ersparte ihnen den Tod.
    Hinter der nächsten Biegung wehten ihnen die ersten Schneeflocken entgegen. Gebückt erreichten sie das Ende des Ganges.
    Vor ihnen lag die zugefrorene Wolga. Über der Schneefläche, die nach wenigen Metern in der Dunkelheit verschwand, tobte ein Sturm, der die Eiskristalle waagrecht durch die Luft trieb. Es würde sehr schwierig werden, in diese m Sturm den Weg durch das Minenfeld zu finden, aber sie hatten keine Zeit, um zu warten.
    Hinter vorgehaltener Hand rauc hten sie Zigaretten. Dann befestigte Fritz ein Seil am Gürtel der Russin. Das andere Ende würde er in der Hand behalten. Er misstraute ihr. Hans widersprach. Gross sagte nichts. Er war der Meinung, dass sie sowieso nicht weit kommen würden. Der aus der Verzweiflung geborene Mut seines ehemaligen Leutnants war rührend, nur ihn berührte er nicht mehr.
    Seine Gedanken glitten in die Ruinen zurück. Dort blieben sie sitzen wie ein Tier, das nicht aus seiner Höhle gezerrt werden will.
    Hans nahm Tatjanas Hand und flüsterte ihr

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