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Stalins Kühe

Stalins Kühe

Titel: Stalins Kühe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sofi Oksanen
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mit ihnen natürlich auch die Hochzeitsgesellschaft, und so gingen wir einfach mit hinein, und Himmel, was war er groß, der einbalsamierteLenin, und ich fand, er sah aus wie aus Kunststoff, aber das wagte ich nicht laut zu sagen, weil dort eine so andächtige Stimmung herrschte, und man kam nicht heran, um ihn richtig aus der Nähe zu betrachten, man musste immer mit der Schlange gehen und durfte nicht stehen bleiben, aber Mutter flüsterte, dass Lenin infolge der Syphilis kleinwüchsig geblieben war, und ich musste plötzlich schrecklich lachen dort bei den ewigen Feuern, und so rannten Mutter und ich hinaus, um zu lachen.

ICH
WEIß
NICHT, , ob es die Ähnlichkeit mit Lenin war, kombiniert mit dem Ort unserer Begegnung, dem Tallinn-Schiff, die mich veranlasste, gerade Wilen als den ersten Menschen auszuwählen, dem ich mich öffnete, oder ob es jeder beliebige andere hätte sein können, dass ich die Zeit für reif befand zu erzählen. Dass ich endlich dazu bereit war. Ich weiß nicht, ob ich mich zurückgezogen hätte, wenn Wilen sich anders verhalten hätte, Wilen würde ich zumindest heute nicht mehr kennenlernen. Da Wilens Aufgabe jedoch erfüllt ist, bin ich nicht traurig zu erfahren, dass Wilen in einigen Monaten auf den Balkan reisen will. Die Reise ist schon organisiert und das Zwischenjahr finanziert.
    Aber Wilen möchte, dass ich mitkomme. Eine so exaltierte Reisebegleitung und entzückende Frau in ein und derselben Person würde sich so leicht nicht wieder finden. Ich müsse mitfahren. Vielleicht hat Wilen auch tiefere Gefühle mir gegenüber. Wilen legt die Hand auf meine. Sogar sehr viel tiefere Gefühle. Und Wilen seufzt tief. Ich müsse unbedingt mitkommen.
    Die Sache ist verlockend, was, wenn dort noch mehr von meinem Zuhause übrig wäre? Wenn es dort all das gäbe, was mir hier fehlt? Vielleicht könnte ich das Geld dafür auftreiben? Wenn Estland zu finnisch wird und zu amerikanisch, müsste ich dann mein Zuhause nicht in größerer Entfernung suchen?
    Wilen möchte so schrecklich gern, dass wir uns gemeinsam von der Dekadenz und Verfallsromantik bezaubernlassen, die es in den früheren sozialistischen Ländern noch gibt, von den Bettlern, den krummrückigen Omas und den abgenutzten Kleidern.
    Von der Verfallsromantik?
    Wir könnten die wegen unserer Piercings entsetzten Mienen der Einheimischen zählen.
    Aber davon habe ich auf der anderen Seite der Bucht schon genug gesehen. Ich habe kürzlich die ersten Piercings in Haapsalu gesehen, dort tauchten sie zur selben Zeit auf wie die Computer und Mäuse und der Mixer in der Stadt bei meiner Tante. Und als würde es mir Spaß machen, die entsetzten Mienen der Einheimischen zu zählen. Die will ich nicht, und die brauche ich nicht. Davon hatte ich schon genug gesehen. Ich vermisste die Smetana nicht deshalb, weil sie eine Revolte gegen die westlichen Länder und meine Eltern und meine Muttersprache und mein Vaterland wäre. Oder weil darin etwas Aufregendes und Exotisches läge. Ich will nur nach Hause. Eine Heimkehr ist kein Abenteuer. Sie bedeutet nur, dass man zurückkehrt.
    Aber das sage ich nicht laut, ich weigere mich nur, mitzufahren.
    Wilen bearbeitet mich eine Zeit lang und tröstet mich dann damit, dass ein Jahr nur kurz ist, wir würden uns sehr bald hier wiedersehen, es dauere nicht lange, nur ein paar Monate.
    Das ist ja nun nicht so schlimm. Was sind wir doch pathetisch. Es ödet mich an, aber ich sage, ich wolle warten. War doch Wilen der erste Mensch gewesen. Und all die ekstatischen Gespräche! Ja, die möchte ich fortführen. Obwohl sie, seit der erste Rausch verflogen ist, einen kleinen, unangenehmen Nachgeschmack bekommen haben, auch wenn ich ihn nicht genau definieren kann. Oder eigentlich spüre ich ihn erst auf der Zunge, als Wilen das Land verlassen hat. Etwas irgendwo tief drinnen. Aber doch so hartnäckig, dass es mir nicht gelingt, mich davon zu befreien. Und ich kannes mir nicht mehr leisten, auch nur zu versuchen, etwas Unangenehmes aus mir herauszukotzen, und schon gar nicht meine Sehnsucht nach den Gesprächen mit Wilen zusätzlich zu dieser vagen Missempfindung, und das auch noch ein ganzes Jahr lang … meine flache Welt kann nicht noch flacher werden. Das begreife auch ich. Tick tack macht die Waage. Wenn ich noch mehr abnehme, falle ich vom Rand meiner tellergroßen Welt ins Nichts. Natürlich könnte ein halbes Jahr des Wartens auch ein halbes Jahr mit demselben Gewicht bedeuten. Höchstwahrscheinlich. Und der

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