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Stalins Kühe

Stalins Kühe

Titel: Stalins Kühe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sofi Oksanen
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sitzen blieb, als Mutter in den Tax-Free-Shop ging. Ich rauchte in der Bar eine Zigarette, oder war es der Klub? Der Nachmittagstanz hatte gerade begonnen, nachdem ein Gesellschaftsspiel zu Ende gegangen war, und der Saaremaa-Walzer lief zum tausendsten Mal. Jemand kam und bat mich um Feuer. Als ich genauer hinschaute, sah ich einen Kopf, der ganz dieselbe Form hatte wie der von Wilen. Die Form war deutlich zu erkennen, denn das Haar darauf war nur wenige Millimeter lang. Ich machte eine Bemerkung über diese Ähnlichkeit.
    Wilen?
    Wladimir Iljitsch Lenin. Ein alter Rufname.
    Da zog der Doppelgänger einen Lenin-Hut aus der Manteltasche und setzte ihn auf. Wau, sagte ich. Spassiba, antwortete Wilen und nahm Platz. Ich verscheuchte ihn, als Mutters Kopf in der Türöffnung des Klubs auftauchte.
    Mutter weiß, dass es keinen Sinn hat, mich etwas zu fragen, ich antworte nicht und erzähle auch freiwillig nichts, sodass keiner von uns auch nur ein Wort gesagt hätte, wenn Wilen noch da gewesen wäre, als Mutter zum Tisch kam. Ich hätte nur meine klammen Hände am Stuhl trocken gewischt und mich bemüht, meinen Blick stabil und sorglos und die Hände fest an ihrem Platz zu halten, damit ihr Zittern nicht sichtbar wurde. Aber es war besser, dass ich allein war, als Mutter zurückkehrte. Denn ich hatte es laut und zu einem ganz fremden Menschen und noch dazu auf dieselbe Art und Weise gesagt wie seinerzeit Irene, ich hatte es als Erstes gesagt: dass ich aus zwei Völkern stamme. Halb Estin, halb Finnin.
    Und Wilen hatte nicht einmal befremdet oder verächtlich die Braue gehoben. Ich hatte einfach darüber gesprochen, und es passierte nichts, niemand pfiff, niemand fragte nach dem Preis, die Leute in der Bar drehten sich nicht nach mir um, das Schiff blieb nicht stehen, es geschah nichts, und dennoch war alles geschehen.

AM
NÄCHSTEN
TAG treffen wir uns in einem Café in Helsinki und trinken Kaffee aus Gläsern, bevor wir ins Restaurant Kosmos gehen. Wir sprechen lange darüber, wieso das Trinken von Kaffee aus Gläsern in Helsinki jetzt so in ist und wie gewöhnlich es in der Sowjetunion war, wir rauchen die dritte Schachtel Zigaretten, mein Mund ist trocken, weil wir pausenlos reden. Nach dem allerersten Satz kann ich nicht mehr aufhören zu sprechen. Wir nehmen gleichzeitig eine neue Zigarette aus der Schachtel, heben das Glas, richten uns gleichzeitig auf, das bemerke ich, aber es wirkt überhaupt nicht komisch, sondern ganz selbstverständlich, und so soll es sein. Wilen erzählt von einer Reise in die ehemaligen Ostblockländer im vergangenen Jahr, ist begeistert, und Wilens enthusiastische Stimme führt uns in eine eigene kleine Welt, dort in der nachmittäglichen Bar, und unsere enthusiastischen Stimmen wechseln einander ab, demnächst will Wilen nach Albanien fahren, Samowar, Pelmeni und russische Spitzengardinen rotieren in Wilens Erzählung wie ein kolchosblauer Kreisel, wie ich ihn als Kind manchmal bei Großmutter tanzen ließ.
    Ich sage, im Kaufhaus von Tallinn möchte ich nicht mit dem Panoramalift in die oberste Etage fahren, sondern zu Fuß die Treppe hochgehen so wie früher, in der Zeit vor diesen Panoramalifts. Obwohl das Treppenhaus immer ganz voller Menschen war und die Gefahr bestand, dass man ohnmächtig wurde, denn eine Ventilation gab es natürlich nicht, aber trotzdem!
    Genau!, ruft Wilen aus.

    Im Kaufhaus Stockmann im Zentrum von Tallinn gibt es heute alles, und von einer Etage in die andere gelangt man über Rolltreppen oder mit dem Fahrstuhl. Das Verhörzimmer des KGB im Hotel Viru ist geöffnet und kann besichtigt werden. Jetzt darf man auf dem Bahnhof fotografieren, und man braucht nicht in der Nacht um vier aufzubrechen, um vor der Ladentür nach Schweineklauen Schlange zu stehen. Ist es falsch, dass ich dorthin zurückmöchte, dorthin, wo man den Bahnhof nicht fotografieren durfte?
    Nein!, ruft Wilen.
    Verstehst du?
    Ich verstehe!
    In der Nähe des Hafens sind viele neue Hotels entstanden. Eine Buslinie, die zur Reederei Tallink gehört, bringt die Finnen vom Hafen zu den Hotels und auf den Markt von Mustamäe … war das jetzt im Viertel- oder im Halbstundentakt … Der Markt von Mustamäe ist jetzt eine überdachte, saubere Markthalle, in der einige wenige Menschen unterwegs sind anstelle des früheren Geschiebes und Gedränges. Schwarzhändler gibt es immer noch, aber sie warnen einen höflich, dass die Ausfuhr von Piratprodukten beim Zoll eine Geldstrafe nach sich ziehen könne,

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