Stalins Kühe
Brautpaare im Lenin-Mausoleum und Chruschtschows Frau, die wie eine Viehpflegerin aussah, in Wilens Armen klingen die Balalaika und Mussorgski und die Kirchenglocken des Kreml wie bei Rachmaninow. Russland summt und all die lächerlichen Namen, das Hotel Druschba und die Filmtheater Sõprus, Freundschaft, Oktoober, Rahu, Frieden und Partisan sowie Kosmos als Hotel, Café und Filmtheater, die Zeitungen Tõõrahva Lipp , Fahne des Arbeitsvolks, Rahva Hääl , Volksstimme, Sirp ja Vasar , Sichel und Hammer, ich muss weinen, als hörte ich alle Klavierkonzerte von Rachmaninow gleichzeitig, und doch jedes für sich, oder als mischte sich das Rauschen einer Platte von Miliza Korjus mit dem Sommerregen in Läänemaa, ich muss weinen wie an allen glücklichen Orten, wie jeder, der zu lange im Exil gewesen ist. Und der Morgen duftet nach der Neva, in der die Sonne aufgeht.
Das bedeutet natürlich nicht, dass ich die Frühstücksblini nicht erbreche. Aber diesmal will ich es eigentlich nicht. Ich würde sie gern bei mir behalten.
Wilen und ich, wir sprechen über dieselben Dinge, lachen und weinen aus denselben Gründen. Aber natürlich muss ich dann das tun, was ich tun muss. Nicht, dass ich mehr will oder besser weiß, was ich möchte, als mit Hukka. Aber Wilen stellt nicht Hukkas endlose Fragen, und deshalb ist es leicht, die Frau zu spielen, die Begehrende zu mimen. Die Lobpreisung der Hände für meinen Körper, das ist es, was ich selbst davon habe. Das genieße ich, und den Blick auf meinen von der Bulimarexie vollendeten Körper. Davon kann ich nie genug bekommen. Und ohne Fragen ist es im Bett leicht. Die Hände auf meiner Haut machen vielleicht Anspielungen, stellen Fragen, aber ihre Fragen müssen nicht später, noch Wochen danach, beantwortet werden. Ich kann sie übergehen. Werde nicht dafür zur Rechenschaft gezogen.
Die One-Night-Stands habe ich allmählich satt, auch wenn sie mir etwas gegeben haben. Es ist so schwindelerregend, mit Wilen über die Dinge zu sprechen, über die ich nie gesprochen habe, dass ich liebend gern die Freuden der Seele den Freuden des Körpers vorziehe. Am besten sind die langen Gespräche, wenn wir uns auf dem Bett gegenübersitzen und Tee trinken. Ich bevorzuge den schnellen Akt, damit wir möglichst schnell zur Gesprächsphase kommen und damit keiner von uns so müde wird, dass wir einschlafen, bevor das Gespräch richtig in Gang gekommen ist.
In Wilens Gesellschaft erinnere ich mich an Dinge, die ich nicht für erinnernswert gehalten habe. Im Bett rauchen wir russische Zigaretten, die Wilen aus St. Petersburg mitgebracht hat, von denen mir der Hals wehtut und die mich an die Priima erinnert, die mein Onkel rauchte. Der Obstkorb auf dem Küchentisch erinnert mich an die Bananen, Wilen, weißt du noch, ach ja, das weißt du gar nicht, wie es damals, zur Zeit des Bananengolds, auf der anderen Seite der Bucht war. Kui oleks ainult banaane … Wenn es doch nur Bananen gäbe … Alle schmachteten danach, und niemand glaubte Mutter, die behauptete, dass es kein Problem löse, wenn der Ladentisch voller Bananen sei, zumal dann, wenn man kein Geld habe, sie zu kaufen. Doch niemand hörte auf sie, denn zu sowjetischer Zeit brauchte man mit einem solchen Problem, nämlich dass kein Geld da war, nicht zu ringen. Nur an Waren mangelte es, besonders, als die Größe und Macht der Sowjetunion in den Achtzigerjahren zu bröckeln begannen. Man würde ja alles aushalten, wenn Bananen da wären, wenn es sie gäbe … Jetzt erinnert sich niemand mehr daran, was für einen Wert die goldene Banane dargestellt hat. Die Bananen in der Obstabteilung von Stockmann in Tallinn sind für jedermann erhältlich, wenn auch vielleicht nicht erschwinglich. Die Bananen sind gekommen, aber mit ihnen kam nicht das Glück. Sie sind keine defitsit – Ware mehr.
Und die Bücher, die Bücher über Tallinn, Moskau, Leningrad! In denen alle Menschen konzentriert und fleißig mit physischer Arbeit beschäftigt sind, das Menschenwunder des sozialistischen Staates, Genosse Tawarischtsch , die Bilder, auf denen die alten Leute immer nachdenklich sind und die Kinder lachen, weißt du noch, die riesigen Lenin-Denkmäler und der einbalsamierte Lenin auf dem Roten Platz … Weißt du noch! Die Schlange war irrsinnig lang, dort vor dem Mausoleum, sie wand sich um den ganzen Roten Platz herum! Wir wollten gar nicht ins Mausoleum, aber vor uns ging gerade ein Brautpaar, und Brautpaare kamen ohne Schlangestehen hinein und
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