Stark (Dark Half) - King, S: Stark (Dark Half) - The Dark Half
den Detektiv: »Hat die noch alle Tassen im Schrank?«
»Hat sie«, sagte der Detektiv. »Ihr Problem ist nur, daß die Welt für sie nur ein Foto ist und sie sich einbildet, sie wäre immer auf der richtigen Seite der Linse.«
Jetzt, um halb vier am Morgen des 6. Juni, war der Detektiv schon lange wieder fort. Gut zwei Stunden zuvor hatten die beiden zum Schutz von Phyllis Myers abgestellten Männer über die Funkgeräte, die sie an den Gürteln trugen, die Nachricht von Donaldsons Tod erhalten. Ihnen war empfohlen worden, extrem wachsam und extrem vorsichtig zu sein, da vor dem Morgen keine Verstärkung geschickt werden konnte und der Psychopath, mit dem sie es zu tun hatten, extrem blutdurstig und extrem gerissen war.
»Vorsichtig ist mein zweiter Vorname«, sagte der erste Cop.
»So ein Zufall«, sagte der zweite. »Meiner ist Extrem.«
Sie waren seit über einem Jahr Partner, und sie kamen gut miteinander aus. Jetzt grinsten sie sich an, und warum auch nicht? Sie waren zwei bewaffnete, uniformierte Angehörige der Elitetruppe des wurmstichigen alten Big Apple, die auf einem gut beleuchteten Flur mit Klimaanlage im sechsundzwanzigsten Stockwerk eines hübschen neuen Apartmenthauses standen, und niemand würde sich an sie heranschleichen oder von der Decke über ihnen herabspringen oder sie mit einer phantastischen Uzi niedermähen, die nie klemmte oder nachgeladen werden mußte. Dies war das wirkliche Leben, kein Roman über das 87. Polizeirevier und auch kein Rambo-Film, und das wirkliche Leben bestand in dieser Nacht aus einem Sondereinsatz, der wesentlich angenehmer war als das Herumfahren in einem Streifenwagen und das Beenden von Schlägereien - zuerst in den Bars, bis sie geschlossen würden, und dann in schäbigen alten Mietshäusern,
in denen betrunkene Ehemänner und Ehefrauen sich darauf geeinigt hatten, uneins zu sein. Das wirkliche Leben sollte immer so aussehen, daß Extrem und Vorsichtig heiße Nächte auf Fluren mit Klimaanlage verbrachten. Davon waren sie jedenfalls überzeugt.
Als sie mit ihren Überlegungen ungefähr so weit gekommen waren, ging die Fahrstuhltür auf, und der verletzte Blinde tappte heraus und kam auf den Flur.
Er war hochgewachsen, mit sehr breiten Schultern. Er sah aus wie ungefähr Vierzig. Er trug ein zerrissenes Sportjakkett und eine Hose, die zwar andersfarbig war, aber dazu paßte. Der eine Cop, Vorsichtig, hatte Zeit zu der Feststellung, daß die Kleidung des Blinden mit recht gutem Geschmack ausgesucht worden war. Der Blinde trug außerdem eine große Brille mit dunklen Gläsern, die ihm schief auf der Nase saß, weil einer der Bügel abgebrochen war. Man konnte sie beim besten Willen nicht als eine dieser affigen Sonnenbrillen bezeichnen. Sie sah eher aus wie die Brille, die Claude Rains in dem Film Der Unsichtbare getragen hatte.
Der Blinde hatte beide Hände ausgestreckt. Die linke war leer, wurde nur ziellos geschwenkt. Die rechte umklammerte einen schmutzigen weißen Stock, auf dem der Lenkergriff eines Fahrrads steckte. Beide Hände waren mit getrocknetem Blut bedeckt. Auf dem Sportjackett und dem Hemd des Blinden trockneten bräunliche Blutflecken. Wenn die beiden zur Bewachung von Phyllis Myers abgestellten Cops tatsächlich extrem vorsichtig gewesen wären, hätte ihnen die ganze Sache höchst merkwürdig vorkommen müssen. Der Blinde faselte von etwas, das anscheinend gerade erst passiert war, und seinem Aussehen nach zu urteilen, war mit ihm tatsächlich etwas passiert, und etwas sehr Unschönes obendrein, aber das Blut auf seiner Haut und seiner Kleidung war bereits bräunlich verfärbt. Das deutete darauf hin, daß schon einige Zeit vergangen sein mußte, seit es vergossen wurde - auch dies eine Tatsache, die Polizisten, die wirklich extrem vorsichtig waren, etwas seltsam hätte vorkommen müssen. Vielleicht hätte im Kopf solcher Polizisten sogar eine Alarmglocke geschrillt.
Aber es war unwahrscheinlich. Alles geschah zu schnell, und wenn etwas zu schnell geschieht, spielt es keine Rolle
mehr, ob man extrem vorsichtig oder extrem leichtsinnig ist - man wird einfach mitgerissen.
In dem einen Moment standen sie noch vor der Tür dieser Myers, glücklich wie Kinder, die schulfrei bekommen haben, weil der Heizungskessel seinen Geist aufgegeben hat; im nächsten war ihnen der Blinde ins Gesicht gesprungen. Sie hatten keine Zeit, nachzudenken, geschweige denn Schlüsse zu ziehen.
»Polizei!« schrie der Blinde, noch bevor die Fahrstuhltür ganz
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