Stark gegen Stress
sie sich wohlfühlen und vermeintlich besser arbeiten können. Für Claude O. ist es andersrum: Er reagiert sensibel auf Geräusche, und so leise die Musik auch sein mag, sie stresst ihn und hindert ihn daran, sich zu konzentrieren.
So hat dieselbe Situation für verschiedene Menschen eine unterschiedliche Bedeutung und führt zu unterschiedlichem Erleben. Bei komplexeren Situationen, zum Beispiel wenn jemand eine Prüfung ablegen muss oder kritisiert wird, spielt die subjektive Einschätzung eine noch wichtigere Rolle.
Eine Frage des Gleichgewichts
KEIN STRESS
Am besten lässt sich das Stressgeschehen am Bild einer alten Waage mit zwei Schalen verdeutlichen. Sind Anforderungen und Bewältigungsmöglichkeiten (Ressourcen) im Gleichgewicht, so besteht kein Stress. Beide Waagschalen sind auf einem Gleichstand. Sie fühlen sich motiviert, Ihre Aufgaben verlangen Ihre volle Aufmerksamkeit, Sie sind ihnen aber auch durchaus gewachsen.
ABTEILUNGSLEITERIN MICHÈLE S. soll vor der Geschäftsleitung die Jahresresultate erläutern und Stellung nehmen zur Frage, warum der Gewinn in ihrem Verkaufssegment im Vergleich zum Vorjahr deutlich geringer ausgefallen ist. Michèle S. macht häufig Präsentationen, sie ist es gewohnt, vor Publikum zu sprechen. Erfahrungsgemäss gewinnt sie mit ihrer sachlichen und zugleich unverkrampften Art ohne Weiteres die Aufmerksamkeit des Publikums (Ressource). Über einen Gewinneinbruch zu reden, für den sie mit ihrer Verkaufsstrategie auch noch direkt verantwortlich ist, das ist trotzdem alles andere als angenehm (Anforderung). Michèle S. hat jedoch eine Reihe einleuchtender Argumente, und sie bereitet sich besonders gut vor (Ressourcen). Deshalb ist sie zuversichtlich, dass sie auch diese Präsentation (Anforderung) gut über die Bühne bringen wird. Sie fühlt sich nicht sonderlich gestresst, obwohl sie ein bisschen aufgeregt ist – aber das gehört dazu.
ÜBERFORDERUNG
Wiegt die Waagschale mit den Anforderungen schwerer als jene mit den Ressourcen, so entsteht Stress. Wenn Sie mit einer inneren oder äusseren Anforderung (mehr dazu auf Seite 38) konfrontiert sind, aber nicht über ausreichende Möglichkeiten verfügen, um angemessen darauf zu reagieren, und wenn Sie diese Tatsache als unangenehm (ängstigend, traurig stimmend, ärgerlich machend) empfinden, so erleben Sie Überforderungsstress.
Im Überforderungsstress haben Sie möglicherweise das Gefühl, dass die Situation Ihnen über den Kopf wächst; Sie befürchten, sich zu blamieren oder zu versagen. Vielleicht lassen Sie sich gar entmutigen und werden traurig, weil Sie denken, dass es eine Herausforderung mehr ist, die Sie nicht meistern werden, dass Sie nichts auf die Reihe kriegen und auch gar keine Chance haben, Einfluss auf die Situation zu nehmen, um sie zu Ihren Gunsten zu verändern, dass sich diese negativen Erfahrungen immer von Neuem wiederholen und Sie verfolgen. Diese Einschätzung und das Gefühl der Ohnmacht verstärken den Stress (mehr dazu auf Seite 46).
RAFFAEL M. hat sich um eine neue Stelle beworben, die gute Zukunftsperspektiven und attraktive Aufstiegsmöglichkeiten verspricht. Er ist ambitioniert und würde diesen Karriereschritt gern machen. Heute ist er nun zum Vorstellungsgespräch eingeladen (Anforderung). Er hat sich im Bewerbungsschreiben sehr positiv dargestellt und angegeben, dass er mehrere Sprachen fliessend beherrscht (Ressourcen). Er weiss auch, dass er sich schriftlich gut präsentieren kann (Ressource), sich mündlich jedoch weniger gut «verkauft» (Anforderung) und häufig etwas nervös wirkt, sodass man seine Sprachgewandtheit gar nicht wahrnimmt und seine Kompetenzen unterschätzt (Anforderung). Besonders schlimm ist es jeweils, wenn er mit statushöheren Personen konfrontiert ist (Anforderung). Eine Stunde vor dem Gesprächstermin fühlt sich Raffael M. so gestresst, dass er überlegt, ob er den Termin überhaupt wahrnehmen soll. Der Stress entsteht, weil er die Anforderungen als gewichtiger wahrnimmt als die Ressourcen, die er ihnen entgegenstellen kann.
UNTERFORDERUNG
Die Waagschalen können aber auch ein Ungleichgewicht zugunsten der Ressourcen anzeigen. Wenn man mehr Ressourcen hat, als man für die Anforderungen benötigt, dann entsteht Unterforderungsstress.
Wenn Sie Ihre Talente nicht nutzen und Ihre Fähigkeiten nicht einsetzen können; wenn Sie Ihre täglichen Aufgaben mit links bewältigen und eigentlich bereit wären für schwierigere oder anspruchsvollere Aufgaben,
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