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Staub

Staub

Titel: Staub Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patricia Cornwell
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Lächeln, und sie schüttelt seine trockene, feingliedrige Hand. Sie schätzt ihn als einen Menschen ein, der ihr Gelegenheit geben könnte, ihn zu verachten. Aber bis auf diese düstere Vorahnung, die sie sofort tief in einem dunklen Winkel ihres Herzens ablegt, fühlt sie nichts.
    Vor vier Monaten hat sie von seiner Existenz gehört, und zwar auf dieselbe Weise, wie sie das meiste erfährt, was mit ihrem früheren Leben in Virginia zu tun hat: durch puren Zufall. Sie saß gerade im Flugzeug und las USA Today , als ihr eine Meldung auffiel, in der es um Virginia ging. »Gouverneurin ernennt nach langer Suche neuen Chefpathologen …«, stand da. Endlich, nach vielen Jahren ohne einen oder nur mit einem kommissarischen Chefpathologen, hatte Virginia jetzt endlich einen gefunden. Scarpetta war während dieser endlosen, quälenden Suche nicht nach ihrer Meinung gefragt oder um Rat gebeten worden.
    Hätte man sie gefragt, dann hätte sie zugegeben, dass sie den Mann nicht kannte. Darauf wäre die diplomatische Andeutung gefolgt, sie sei ihm sicher schon bei einem bundesweiten Kongress begegnet, könne sich aber an den Namen nicht erinnern. Gewiss sei er ein anerkannter forensischer Pathologe, hätte sie weiter erklärt, sonst würde man ihn auch wohl kaum zum Leiter der einflussreichsten gerichtsmedizinischen Behörde in den gesamten Vereinigten Staaten machen.
    Doch als sie Dr. Marcus jetzt die Hand schüttelt und ihm in die kleinen kalten Augen blickt, stellt sie fest, dass er ihr absolut fremd ist. Er ist eindeutig weder jemals Mitglied eines bedeutenden Gremiums gewesen, noch hat er bei einem pathologischen, gerichtsmedizinischen oder forensischen Kongress referiert, bei dem sie anwesend war. Ansonsten würde sie sich an ihn erinnern. Namen vergisst sie hin und wieder, aber niemals ein Gesicht.
    »Kay, endlich lernen wir uns kennen«, sagt er und beleidigt sie damit wieder, nur dass es diesmal schlimmer ist, weil sie sich persönlich gegenüberstehen.
    Was sie am Telefon nur widerstrebend so gedeutet hat, lässt sich nun, als sie ihm in der Vorhalle des Gebäudes namens Biotech II begegnet, wo sie zuletzt als Chefpathologin tätig war, nicht mehr von der Hand weisen. Dr. Marcus ist ein kleiner, magerer Mann mit einem kleinen, mageren Gesicht und einem kleinen, mageren Kranz schmutzig grauer Haare hinten an seinem kleinen Kopf und sieht somit so aus, als hätte die Natur bei ihm am Material gespart. Er trägt eine altmodische schmale Krawatte, eine formlose graue Hose und Mokassins. Unter dem billigen weißen, durchgeknöpften Hemd, das ihm um den dünnen Hals schlottert, ist ein ärmelloses Unterhemd zu sehen. Der Hemdkragen ist schmuddelig und voller aufgerauter Knötchen.
    »Gehen wir rein«, sagt er. »Ich fürchte, heute ist hier ziemlich viel los.«
    Sie will ihm gerade erklären, dass sie nicht allein ist, als Marino aus der Herrentoilette kommt. Er zieht sich die schwarze Cargohose hoch und hat die LAPD-Kappe tief in die Stirn geschoben. Scarpetta stellt ihn vor und beschränkt sich dabei auf das Nötigste.
    »Mr. Marino war früher bei der Polizei von Richmond und ist ein sehr erfahrener Ermittler«, sagt sie, während Dr. Marcus’ Miene sich verfinstert.
    »Sie haben nicht erwähnt, dass Sie jemanden mitbringen wollten«, erwidert er barsch. Sie befinden sich in Scarpettas ehemaliger geräumiger Vorhalle aus Granit und Glasbausteinen, wo sie sich gerade angemeldet und dann zwanzig Minuten wie bestellt und nicht abgeholt herumgestanden und darauf gewartet hat, dass Dr. Marcus oder irgendjemand sonst sie zur Kenntnis nimmt. »Ich dachte, ich hätte klargestellt, dass es sich um eine äußerst sensible Situation handelt.«
    »Hey, machen Sie sich keinen Kopf drüber. Ich bin sehr sensibel«, erwidert Marino laut.
    Dr. Marcus tut so, als hätte er ihn nicht gehört, doch innerlich kocht er offenbar. Scarpetta kann förmlich spüren, wie seine Wut die Luft im Raum verdrängt.
    »Im Jahrbuch meiner Abschlussklasse hieß es über mich: ›Wird aller Wahrscheinlichkeit nach sehr sensibel werden‹«, fügt Marino nicht weniger laut hinzu. »Hey, Bruce!«, ruft er dann einem uniformierten Wachmann zu, der gerade aus der Asservatenkammer in die Vorhalle tritt. »Wie geht’s, wie steht’s, Mann? Spielst du immer noch Bowling bei den Pin Heads, diesen Versagern?«
    »Habe ich es nicht erwähnt?«, meint Scarpetta. »Das tut mir aber Leid.« Sie hat es wirklich nicht erwähnt, bedauert das allerdings nicht im

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