Staub
Finger gleiten wie Spielkarten. Dann schnippt er ein Foto zwischen Zeigefinger und Daumen hervor wie ein Croupier am Blackjack-Tisch. »Wissen Sie, warum Drogendealer weniger Körperfett haben als, sagen wir mal, Sie oder ich?« Er lässt das Bild auf ihre Tastatur fallen.
Julie, die höchstens fünfundzwanzig und recht attraktiv, aber ein bisschen pummelig ist, starrt auf das Foto eines muskulösen jungen Schwarzen, der so nackt ist wie am Tag seiner Geburt. Mit aufgeklapptem Brustkorb liegt er ausgehöhlt auf einem Autopsietisch; seine Organe sind verschwunden, bis auf ein auffällig großes, vermutlich sein allerwichtigstes, als er sich noch lebendig genug fühlte, um es einzusetzen. »Wie bitte?«, fragt Julie. »Sie wollen mich auf den Arm nehmen, stimmt’s?«
»Ich bin so ernsthaft wie ein Herzinfarkt.« Marino zieht einen Stuhl heran und setzt sich neben sie, und zwar sehr dicht. »Schauen Sie, Schätzchen, der Körperfettanteil steht in direktem Zusammenhang mit dem Gewicht des Gehirns. Denken Sie nur mal an uns beide. Es ist ein ständiger Kampf, richtig?«
»Das können Sie laut sagen. Und Sie glauben wirklich, dass kluge Leute eher dick werden?«
»Das ist eine Tatsache.«
»Und was halten sie von diesen Leuten, die behaupten, man könne essen, was man will, solange es nicht weiß ist.«
»Sie haben’s erfasst, Baby, davon halte ich sehr viel. Ich fasse nichts Weißes an, abgesehen von Frauen. Aber wenn ich ein Drogendealer wäre, könnte mir das alles scheißegal sein. Ich würde in mich reinstopfen, worauf ich Lust hätte. Plätzchen, Kuchen, Weißbrot mit Marmelade. Und das läge daran, dass ich kein Hirn hätte, stimmt’s? Wissen Sie, die toten Drogendealer sind deshalb tot, weil sie dumm sind. Und deshalb haben sie kein Körperfett und können so viel weißes Zeug essen, wie sie wollen.«
Ihre Stimmen und ihr Gelächter werden leiser, als Scarpetta einem Flur folgt, der ihr so vertraut ist, dass sie sich sogar an das Geräusch des grauen Teppichbodens unter ihren Schuhen erinnert und noch genau weiß, wie sich dieser kleinmaschige Belag anfühlt, den sie bei der Planung des Gebäudeteils selbst ausgesucht hat.
»Sein Benehmen ist wirklich ausgesprochen unpassend«, sagt Dr. Marcus gerade. »An einem Ort wie diesem setze ich etwas mehr Pietät voraus.«
Die Wände wirken abstoßend, und die Norman-Rockwell-Drucke, die Scarpetta selbst gekauft und gerahmt hat, hängen schief. Zwei fehlen. Als sie im Vorbeigehen durch die offenen Türen in die Büros schaut, bemerkt sie schlampig aufgestapelte Akten, Mappen mit Objektträgern und Röhrenmikroskope, die wie große, müde graue Vögel auf überfüllten Schreibtischen kauern. Jeder Anblick und jedes Geräusch strecken sich ihr entgegen wie flehende Hände, und tief in ihrem Innersten spürt sie, was hier verloren gegangen ist. Das schmerzt sie mehr, als sie es je für möglich gehalten hätte.
Nach einer Rechtskurve bleiben sie nicht am Kaffeeautomaten stehen; stattdessen öffnet Dr. Marcus eine massive Holztür, die in die Bibliothek führt. Scarpetta wird von medizinischen Fachbüchern begrüßt, die verlassen auf langen Tischen liegen. Andere Nachschlagewerke stehen windschief wie Betrunkene in den Regalen. Der riesige hufeisenförmige Tisch ist eine Müllkippe, die aus Zeitschriften, Zetteln, schmutzigen Kaffeebechern und sogar einer Schachtel besteht, die einmal Doughnuts enthalten hat. Mit klopfendem Herzen sieht sie sich um. Sie hat diesen großzügig geschnittenen Raum selbst entworfen und war stolz darauf, wie viel Geld sie dabei gespart hat, denn medizinische und wissenschaftliche Fachbücher und eine Bibliothek, um sie aufzubewahren, sind ein ausgesprochen teures Vergnügen und sprengen eigentlich den Rahmen dessen, was der Staat in eine Behörde, deren Kundschaft keine Steuern mehr zahlt, investieren möchte. Scarpettas Aufmerksamkeit bleibt an den Bänden von Greenfields Neuropathology und den juristischen Fachzeitschriften hängen, die sie aus ihrer eigenen Sammlung gespendet hat. Die Bände sind nicht in der richtigen Reihenfolge. Einer steht sogar auf dem Kopf. Allmählich wird sie wütend.
Sie blickt Dr. Marcus an. »Ich glaube, wir sollten zuerst ein paar Regeln festlegen«, sagt sie.
»Was meinen Sie damit, Kay? Welche Regeln?«, gibt er mit einem verdatterten Stirnrunzeln zurück, das aufgesetzt und ärgerlich zugleich ist.
Sie findet seine unverhohlene Gönnerhaftigkeit unfassbar. Er erinnert sie an einen Verteidiger,
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