Staub
mitzukriegen, dass der Chefpathologe mit einer Klage von Seiten der Familie des Mannes rechnet. Ansonsten wären derartige Spuren bei einem Unfall, noch dazu einem aus grober Fahrlässigkeit, nämlich nicht von Bedeutung. Das Problem ist nur, dass man, wenn man sucht, manchmal auch etwas findet, und jetzt ist Eise auf etwas gestoßen, das für ihn einfach keinen Sinn ergibt. In Augenblicken wie diesem denkt er stets daran, dass er schon dreiundsechzig ist – vor zwei Jahren hätte in Rente gehen können – und wiederholt eine Beförderung zum Leiter der kriminaltechnischen Abteilung ausgeschlagen hat, da er sich nur am Mikroskop zu Hause fühlt. Er braucht weder Haushaltsplanung noch Personalfragen für sein Lebensglück, und außerdem ist sein Verhältnis zum Chefpathologen so miserabel wie nie zuvor.
Im konzentrierten Lichtkegel des Mikroskops schiebt er mit seinem neuen Wolframwerkzeug Lack- und Glaspartikel auf einem trockenen Objektträger hin und her. Sie sind mit einer anderen Substanz vermischt, einem graubraunen und merkwürdigen Staub, den er noch nie gesehen hat – mit einer wichtigen Ausnahme. Vor zwei Wochen ist er schon einmal auf diesen Staub gestoßen, und zwar in einem ganz anderen Fall, denn er geht davon aus, dass der plötzliche und geheimnisvolle Tod eines vierzehnjährigen Mädchens nichts mit dem Unfall dieses Traktorfahrers zu tun haben kann.
Eise blinzelt, und sein Oberkörper erstarrt. Die Lackpartikel sind etwa so groß wie Schuppen und rot, weiß und blau. Sie stammen nicht von einem Fahrzeug oder gar von einem Traktor, so viel steht fest. Allerdings würde er beim Unfalltod des Traktorfahrers namens Theodore Whitby auch nicht von Autolack ausgehen. Die Lackpartikel und der seltsame graubraune Staub wurden in einer Risswunde im Gesicht des Toten gefunden. Ähnliche, wenn nicht sogar identische Lacksplitter sowie graubraunen Staub hat man in der Mundhöhle der Vierzehnjährigen sichergestellt, hauptsächlich auf ihrer Zunge. Der eigenartige Staub ist es, der Eise am meisten zu schaffen macht, denn so etwas ist ihm noch nie untergekommen. Die Partikel haben eine unregelmäßige Form und sind verkrustet wie getrockneter Schlamm. Aber es ist kein Schlamm. Diese Staubpartikel weisen Risse, Blasen und glatte Stellen auf und haben dünne, transparente Ränder wie die Oberfläche eines ausgedörrten Planeten. Manche zeigen sogar Löcher.
»Was zum Teufel ist das?«, fragt er sich. »Ich habe keine Ahnung, was das sein soll. Und wie kann dieses komische Zeug in zwei Fällen auftreten, zwischen denen unmöglich ein Zusammenhang besteht? Was ist hier nur los?«
Er nimmt eine Pinzette mit nadelspitzen Enden und entfernt vorsichtig einige Baumwollfasern von den Partikeln auf dem Objektträger. Als Licht durch die Linsen des Mikroskops fällt, wirkt die Ansammlung vergrößerter Fasern wie verdrehte weiße Fadenstückchen.
»Ich kann gar nicht sagen, wie sehr ich Wattestäbchen hasse!«, ruft er durch das mehr oder weniger leere Labor. »Wisst ihr, wie furchtbar Wattestäbchen nerven können?«, fragt er in den großen eckigen Raum voller schwarzer Arbeitsflächen, Absaughauben, Arbeitsplätze, Mikroskope und anderer Gegenstände aus Glas und Metall und Chemikalien hinein, die in seinem Beruf von Nöten sind.
Die meisten Mitarbeiter befinden sich nicht an ihrem Platz, sondern in anderen Labors auf dieser Etage, wo sie sich mit Atomabsorption, Gaschromatographie, Massenspektroskopie, der Untersuchung von Kristallstrukturen durch gebrochene Röntgenstrahlung, dem Fourier-Transform-Infrarot-Spektrophometer, dem Elektronenmikroskop oder SEM/Energiestreuungs-Röntgenspektrometer und anderen Gerätschaften beschäftigen. In einer Welt, die von einem endlosen Rückstau unerledigter Arbeiten sowie knappen Budgets bestimmt wird, nehmen Wissenschaftler, was sie kriegen können, stürzen sich auf technische Apparaturen wie auf Pferde und reiten sie, bis sie den Geist aufgeben.
»Es ist allgemein bekannt, wie sehr Sie Wattestäbchen hassen«, meint Kit Thompson, Eises momentane Laborkollegin.
»Aus all den Baumwollfasern, die ich im Laufe meines kurzen Lebens gesammelt habe, könnte ich inzwischen eine riesige Decke weben«, erwidert er.
»Warum tun Sie das nicht? Das würde ich schon lange gern mal sehen.«
Eise greift nach der nächsten Faser. Sie sind nicht leicht zu erwischen. Immer wenn er die Pinzette oder die Wolframnadel bewegt, lässt ein leichter Lufthauch die Faser verrutschen. Er stellt die
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