Staub
leicht ist. Marino? Könntest du ihr bitte Papiertaschentücher und ein Glas Wasser holen?«
Wo ist Sweetie? O Gott, wo ist Sweetie? Doch nicht etwa wieder bei dir im Bett?
»Sie sah aus, als würde sie schlafen«, hört Mrs. Paulsson sich sagen.
»Auf dem Rücken? Oder auf dem Bauch? Wie lag sie im Bett? Bitte versuchen Sie sich zu erinnern. Ich weiß, dass es sehr, sehr schwer ist.«
»Sie schlief immer auf der Seite.«
»Lag sie auf der Seite, als Sie ins Zimmer kamen?«, hakt Scarpetta nach.
Ach herrje, Sweetie hat ins Bett gemacht. Sweetie? Wo bist du? Versteckst du dich unter dem Bett? Sweetie? Du warst schon wieder im Bett, stimmt’s? Das darfst du doch nicht! Irgendwann gebe ich dich noch mal ins Tierheim. Vor mir kannst du nichts verstecken!
»Nein«, schluchzt Mrs. Paulsson.
Gilly, bitte wach auf, bitte wach auf. Das kann nicht sein! Das kann nicht sein!
Scarpetta hockt neben ihrem Stuhl, blickt ihr in die Augen, hält ihre Hand und sagt etwas.
»Nein!« Mrs. Paulsson wird von Schluchzern geschüttelt. »Sie hatte nichts an. O mein Gott! Gilly hätte doch nie nackt dagelegen. Sie hat ja sogar zum Umziehen ihre Tür zugemacht.«
»Ist ja gut«, tröstet Scarpetta sie. Ihr Blick und ihre Berührung sind sanft. Keine Spur von Furcht ist in ihren Augen. »Holen Sie tief Luft. Versuchen Sie es. Tief einatmen. Ja. Sehr gut. Langsam und tief Luft holen.«
»O Gott, ist das ein Herzinfarkt?«, stößt Mrs. Paulsson in heller Angst hervor. »Sie haben mir mein kleines Mädchen weggenommen. Mein kleines Mädchen ist fort. Oh, wo ist mein kleines Mädchen?«
Marino erscheint mit einer Hand voll Papiertaschentüchern und einem Glas Wasser in der Tür. »Wer sind ›sie‹?«, fragt er.
»O nein, sie ist nicht an der Grippe gestorben, stimmt’s? O nein. O nein. Mein kleines Mädchen ist nicht an der Grippe gestorben. Sie haben sie mir weggenommen.«
»Wer sind ›sie‹?«, wiederholt er. »Glauben Sie, dass mehr als eine Person daran beteiligt war?« Er kommt ins Zimmer, und Scarpetta nimmt ihm das Glas ab.
Sie hilft Mrs. Paulsson, das Wasser in kleinen Schlucken zu trinken. »Sehr gut. Trinken Sie langsam. Tief durchatmen. Beruhigen Sie sich. Haben Sie jemand, der vorübergehend bei Ihnen wohnen kann? Ich möchte nicht, dass Sie zurzeit allein sind.«
»Wer ›sie‹ sind?« Mrs. Paulssons Stimme wird lauter, als sie Marinos Frage wiederholt. »Wer sie sind?« Als sie vom Stuhl aufstehen will, gehorchen ihr die Beine nicht; sie scheinen nicht mehr zu ihr zu gehören. »Ich will Ihnen sagen, wer sie sind.« Ihre Trauer verwandelt sich in eine Wut, die so übermächtig ist, dass sie ihr selbst Angst macht. »Die Leute, die er hierher eingeladen hat. Die meine ich. Fragen Sie doch Frank, wer sie sind. Er weiß es.«
22
Im kriminaltechnischen Labor hält der Forensiker Junius Eise einen Wolframfaden in die Flamme eines Bunsenbrenners.
Er ist stolz auf seine selbst gebastelten Werkzeuge, wie sie die Meister am Mikroskop schon seit Jahrhunderten anfertigen. Unter anderem ist es diese Fähigkeit, die ihn in seinen Augen als Puristen und Renaissancemenschen sowie als Liebhaber der Wissenschaft, Geschichte, Ästhetik und schöner Frauen qualifiziert.
Er hält das kurze Stück starren, feinen Drahtes mit einer Zange fest, sieht zu, wie das gräuliche Metall sich rasch leuchtend rot färbt, und stellt sich vor, dass es von Zorn oder Leidenschaft ergriffen wurde. Nachdem er den Draht aus der Flamme genommen hat, wälzt er die Spitze in Sodiumnitrit, wodurch das Wolfram oxidiert und geschärft wird. Ein kurzes Eintauchen in eine Petrischale mit Wasser, und das spitz zulaufende Drahtstück kühlt mit einem Zischen ab.
Er befestigt den Draht in einem Nadelhalter aus Edelstahl und weiß dabei genau, dass er dieses Werkzeug nur angefertigt hat, um Zeit zu gewinnen, sich eine Weile zurückzuziehen, sich auf etwas anderes zu konzentrieren und sich wenigstens vorübergehend einzureden, dass er alles im Griff hat. Er späht durch die Binokularlinsen seines Mikroskops. Das Chaos und Durcheinander sind unverändert geblieben, nur mit dem Unterschied, dass sie nun um das Fünfzigfache vergrößert sind.
»Ich verstehe das nicht«, sagt er zu sich selbst.
Mit seinem neuen Wolframwerkzeug schiebt er die Lack- und Glaspartikel hin und her; diese wurden an der Leiche eines Mannes sichergestellt, der vor wenigen Stunden von seinem eigenen Traktor zermalmt worden ist. Man müsste schon einen Dachschaden haben, um nicht
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