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Stefan George - Karlauf, T: Stefan George

Stefan George - Karlauf, T: Stefan George

Titel: Stefan George - Karlauf, T: Stefan George Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Karlauf
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lasse, sondern dass umgekehrt die Zerfahrenheit des Lebens als Ausdruck des innersten Zustands des Menschen zu verstehen sei. 77 Er beklagte den »Mangel an Definitivem im Zentrum der Seele« und entwickelte schließlich, in einer überraschenden Wendung von Kant zu Nietzsche, jenes »individuelle Gesetz«, mit dem er die Selbstverwirklichung des Individuums zur Grundlage seines sittlichen Handelns erhob. Simmel verwendete die Formulierung erstmals 1902 in einem Aufsatz über Auguste Rodin, der auch Georges Interesse geweckt haben dürfte.
    Margarete Susman war davon überzeugt, »dass Simmel seinen größten Gedanken ohne George nicht gefunden hätte. In ihm sah er einen Menschen und Künstler vor sich, der dämonisch-unbeirrbar die in ihm vorgezeichnete linea innata realisierte und zu Ende führte.« 78 Als Simmel die Idee einer neuen, den Individualisierungstendenzen des Zeitalters angemessenen Ethik in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre zu entwickeln begann, orientierte er sich an den Großen der Vergangenheit, an Kant, Goethe und Rembrandt. Aber erst »das persönliche Erlebnis der Bekanntschaft mit Stefan George«, urteilt der Simmel-Biograph Köhnke, habe ihn »den Gedanken eines ›individuellen Gesetzes‹ vollständig formulieren« lassen. 79 1905 widmete er George die zweite überarbeitete Auflage seiner Probleme der Geschichtsphilosophie . 80
    George bediente die Sehnsucht bürgerlicher Intellektueller nach dem Ursprünglichen und Echten auf vielfache Weise. Aber er war klug genug, sich von ihnen nicht vereinnahmen zu lassen. Instinktiv blieb er allem Spekulativen gegenüber misstrauisch. Intellektuelle Unsicherheit überspielte er, indem er eine gewisse Naivität schützend vorschob. »Man kann ganz vollkommen sein«, fasste er 1920 sein Verhältnis zu Simmel pointiert zusammen, »und von alledem nicht das Geringste verstehen.« 81 So wenig ihn die Theorien interessierten, die Leute wie Dessoir, Meyer oder Simmel über ihn zirkulieren ließen, so wenig wollte er als Fabeltier in den Berliner Salons herumgereicht werden. »Er hatte den Blick für die fatale Toleranz, die ihm die maßgebenden Salons hätten bewilligen mögen«, schrieb Adorno.
»Diesen zieht er Konventikel vor, zu denen er ohnehin gravitiert: als Verfemter.« 82
    Als ginge ihn die ganze Terminologie nichts an, fasste George an einem bestimmten Punkt des Simmelschen Monologs das für ihn Wesentliche kurz und bündig zusammen. Einmal verteidigte Simmel lang und breit die Vorteile der Induktion gegenüber der Deduktion und meinte, die Wissenschaft müsse vom Einzelfall ausgehen, um von den Rändern her allmählich zur Mitte vorstoßen – da sei ihm George in die Parade gefahren: »Wer nicht in der Mitte steht, gelangt niemals hin.« 83 In der geistig hochgezüchteten Welt der Berliner Salons der Jahrhundertwende wirkten solche provozierend schlichten Äußerungen wie Spruchweisheiten aus einem anderen Kulturkreis. Für George bedeuteten sie nichts anderes als der Sieg des Einfachen über das Komplizierte. Er sei damals aufgetreten, schrieb einer seiner erbittertsten Feinde später, mit der »Unverletzlichkeit großer Würdenträger in großen Geschäften, vor denen das Gespräch und die Menge zurücktritt«. 84 Indem George sich jedem Versuch entzog, ihn einzuordnen und festzulegen, blieb er für viele Intellektuelle zwischen Charlottenburg und Westend über Jahre ein faszinierendes Objekt, an dem sich neue Thesen gleichsam experimentell überprüfen ließen. Ein Jahrzehnt später sollte es in Heidelberg zu einer ähnlichen Konstellation zwischen George und Max Weber kommen, aus der im Sommer 1910 der Begriff der charismatischen Herrschaft hervorging.
    Simmels Relativismus, seine Kunst, auch das scheinbar Fremdeste in Beziehung zueinander zu setzen, wurde im Kreis um George gern als »Versimmeln« verspottet. In der Tat gab es nichts, was nicht Simmels Neugier geweckt hätte. Er schrieb über so weit auseinander liegende Themen wie das Jodeln und die Prostitution, über Böcklins Landschaften und den Begriff der Ehre, über Spiritismus und Pessimismus, über den Henkel und die Alpen oder über »Das Relative und das Absolute im Geschlechter-Problem«. Legendär waren vor allem seine Vorlesungen, zu denen scharenweise auch Damen der Gesellschaft pilgerten. Simmel selbst erschien in Kniehosen auf dem Fahrrad; in den besseren Kreisen, die sich das teure Vergnügen leisten
konnten, galt Radeln als der letzte Schrei. In dem stets

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