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Stefan George - Karlauf, T: Stefan George

Stefan George - Karlauf, T: Stefan George

Titel: Stefan George - Karlauf, T: Stefan George Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Karlauf
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überfüllten Kolleg habe man beobachten können, »wie der Prozess des Denkens Besitz ergriff von dem ganzen Manne«, erinnerte sich Paul Fechter:
    Wenn Simmel den Kern eines Gedankens, einer Erkenntnis den Hörern zeigen wollte, formulierte er ihn nicht nur: er hob ihn gewissermaßen sichtbar mit der Hand, deren Finger sich nach oben spreizten und wieder schlossen, empor; sein ganzer Körper wand und drehte sich unter dieser erhobenen Hand, die das Problem trug, als ob er nur in dieser Spiralbewegung die Substanz des Gedankens aus der eigenen Tiefe losreißen und zum Kopf, zum Hirn, zu den Worten empordrängen könnte. 85
    George schätzte vor allem den anregenden Unterhalter und folgte den Einladungen ins Haus Simmel gern. Simmel, der die schönen Seiten des Lebens zu genießen wusste, besaß eine wunderbare Bibliothek, sammelte fernöstliche Antiquitäten, über die er kenntnisreich zu reden verstand, und war ein charmanter Gastgeber. Schon 1901 bedauerte er allerdings, dass die Intimität ihrer Unterhaltungen erheblich beeinträchtigt werde, wenn George jedes Mal einen Freund mitbringe: »Ich gestehe offen: den unvergleichlichen, ganz persönlichen, ganz verinnerlichten Ton unsrer Abende zu dreien halte ich in Gegenwart eines Vierten für unerreichbar, selbst wenn dieser Vierte so sympathisch ist wie Herr Gundolf.« 86 Bezeichnend für den distanziert-respektvollen, leicht ironischen Ton, mit dem George dem zehn Jahre älteren Simmel begegnete, ist eine Anekdote wenige Jahre später, als er wieder einmal in Begleitung eines seiner jungen Freunde erschien, den er als Dr. B. vorstellte. Simmel: »Ich wusste nicht, dass Herr B. einen akademischen Grad besitzt.« Darauf George: »Sie dachten wohl, er sei Beamter im städtischen Gaswerk?« 87
    Während George im Haus Lepsius immer häufiger eher den Kontakt zu Reinhold suchte als zu Sabine, war es im Haus Simmel Frau Gertrud, die ihm »durch die größere Tiefe ihres Fühlens einige Jahre hindurch fast näher stand als Simmel selbst«. 88 Was George an dieser groß gewachsenen, blonden, blauäugigen Frau faszinierte, die in allem das vollkommene Gegenteil ihres Mannes zu sein schien, war das nordisch Protestantische. Im Umgang mit Gertrud Simmel sei ihm
das protestantische Wesen, dem er immer ablehnend gegenüberstand, erstmals als eine positive Kraft begegnet; »das habe er früher nicht gewusst. ›Ich dachte, es wäre, wie der Name sagt, etwas Negatives.‹« 89 Allerdings habe sich Frau Simmel in manche Probleme so tief hineingebohrt, dass ihr gar keine Zeit geblieben sei, sich dem Leben zuzuwenden. »Er habe sie so lange gekannt und wisse nicht, was ihr eigentlich Freude mache«, obwohl doch jeder Mensch eine Passion habe. Er hätte ihr gern geholfen, betonte George, »das Protestantische in ihr habe sie aber den Befreier, den sie suchte, nicht sehen lassen«.
    Umgekehrt galt das Gleiche. Jeder rechnete den anderen unter die tragischen Menschen, denen ein schweres Los auferlegt sei. »St.G. ist mir immer tragisch im Leben; er ist immer tragisch, wo er nicht Dichter sein kann«, schrieb Gertrud Simmel 1908 an Sophie Rickert. »Der Alltag kann nichts mit ihm machen und er kann nichts mit ihm machen, er kann ihn nicht erheben und er kann ihn nicht als Nebensache unter sich bringen – sie stehen immer grotesk zu einander.« 90 So erkannte jeder der beiden im anderen, wenn auch uneingestanden und mit Sicherheit nicht in vergleichender Absicht, die eigene Fremdheit mitten im Leben. Obwohl Gertrud Simmel zu jenen kompromisslos intellektuellen Frauen gehörte, die ihm nie ganz geheuer waren, empfand George doch eine tiefe Seelenverwandtschaft. Gertrud Simmel gehöre zu den »seriösesten Menschen«, die ihm begegnet seien. »Man kann bei ihr das Genus weglassen und Mensch sagen.« 91
    Neben Gertrud Simmel, der Ehefrau, war es Simmels Geliebte, Gertrud Kantorowicz, zu der George eine besondere Affinität entwickelte. Als Simmel zur ersten Lesung im Haus Lepsius im November 1897 auf Georges Wunsch Lou Andreas-Salomé einlud, erlaubte er sich für den Fall, dass diese verhindert sei, Fräulein Kantorowicz zu empfehlen, »ein noch junges, ungewöhnlich ernsthaftes Mädchen, dem Höchsten zugewandt, dem Feinsten zugängig, dichterisch sehr begabt, und eine warme Verehrerin von Ihnen. Ich halte sie für fähig, von Ihrer Vorlesung einen für ihr Entwicklungsschicksal entscheidenden Eindruck zu bekommen, und damit wäre für das Reich der Werte, die die unsern sind, ein

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