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Stefan George - Karlauf, T: Stefan George

Stefan George - Karlauf, T: Stefan George

Titel: Stefan George - Karlauf, T: Stefan George Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Karlauf
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matte, etwas rote Lider, dunkle, starre, nicht große Augensterne. Dann verbeugte er sich und ging. 63

    Der Bericht der Vossischen Zeitung über Georges erste Lesung im Haus Lepsius am Sonntag, dem 14. November 1897, erinnert in manchem Detail an die Schilderungen seines ersten öffentlichen Auftritts im März 1896 in Den Haag: die höflichen Verbeugungen, die leise, gleichmäßige Stimme, das Sprechen des Schlussgedichts im Stehen. Und die etwa zwanzig geladenen Gäste in Charlottenburg waren in ähnlicher Weise charmiert wie die Holländer. Neben Marie von Bunsen, die den Artikel in der Vossischen schrieb, griff eine weitere Besucherin zur Feder: Lou Andreas-Salomé, die Freundin Nietzsches, die seit einem halben Jahr mit einem jungen Mann durch die Lande zog, der sich ihr zuliebe neuerdings Rainer Maria statt René nannte und der der Lesung ebenfalls beiwohnen durfte.
    Im Pan vom November 1898 ließ sich Lou Andreas-Salomé breit über das Verhältnis von Stoff und Form, über »die Geheimtiefen der Menschenseele« und die Aufgaben wahren Künstlertums aus, ehe sie auf George zu sprechen kam. Seine Gedichte stünden in so vollkommenem Einklang mit seiner ganzen Erscheinung, dass man verleitet sei zu behaupten, erst beides zusammen mache das wahre Kunstwerk aus. »Für mich hat ein Gedicht noch niemals eine solche siegreiche und überwältigende Umwandlung erlebt, wie Stefan Georges Gedichte in seinem mündlichen Vortrag.« Im Lesen habe seine Persönlichkeit »an sich gleichsam noch einmal ihr Kunstwerk wiederholt … als sei sie ihrerseits aus ihren eigenen Gedichten herausgesprungen und deren Geschöpf nicht minder wie deren Schöpfer«.
    Die Autorin begrüßte die Gedichte als überfälliges »Korrektiv gegenüber Ausschreitungen und Übertreibungen zur Formlosigkeit«. Mit ihnen sei der Beweis erbracht, »dass dasselbe technische Raffinement, welches in Frankreich die absterbende Gefühlskultur des Kranken, Perversen, Übersensitiven begleitet, sich in Deutschland in einer Art von Kantschem Rigorismus mit Zurückdrängung der vorhandenen Innerlichkeit ausspricht«. 64
    Der dritte große, für Georges Durchbruch entscheidende Artikel lag zum Zeitpunkt der Lesung bereits vor. Er war in den altehrwürdigen Preußischen Jahrbüchern erschienen und ging zurück auf einen
Vortrag, den Richard M. Meyer am 17. März 1897 vor der Gesellschaft für deutsche Literatur in Berlin gehalten hatte. Meyer, durch Hofmannsthals Besprechung der Bücher der Hirten- und Preisgedichte auf George aufmerksam geworden, wollte »von einer Dichtergruppe erzählen, die eben erst am Horizont sichtbar« werde und die den Zeitgenossen kaum weniger fremdartig erscheine »als die eben ausgegrabenen Mimiamben des Herondas«. Das mit Dutzenden von gelehrten Querverweisen angereicherte Referat war der erste Versuch einer Einordnung Georges und seiner Gruppe in den europäischen Kontext durch einen Vertreter der Zunft. George jubelte: »eine ganz neue entwickelung!!« 65
    Zu den aufmerksamsten Lesern des Artikels zählte Meyers Kollege Simmel. Während des Studiums miteinander befreundet, beäugten sie sich seit langem argwöhnisch. Simmels Abneigung gegen den zwei Jahre jüngeren Meyer kam auf boshafte Weise darin zum Ausdruck, dass er den in Deutschland damals noch ungewöhnlichen Gebrauch der middle initials verballhornte, indem er Meyer vorzugsweise Richard Moses oder R. Moses Meyer nannte. 66 Jetzt war Meyer mit seiner Vorstellung eines neuen esoterischen Dichterkreises vorgeprescht, und Simmel beeilte sich, die Scharte auszuwetzen. Als George Anfang Oktober 1897 in Berlin eintraf, lernte er beide innerhalb weniger Tage persönlich kennen: Simmel und seine Frau Gertrud im Haus Lepsius, Meyer und seine Frau Estella bei einer Abendeinladung im Haus Meyer, zu der er von Wolfskehl und den beiden Lepsius begleitet wurde.
    Aber nicht nur Meyers Artikel dürfte Simmel im Hinterkopf gehabt haben, als er Ende des Jahres zu einem grundlegenden Essay »Stefan George. Eine kunstphilosophische Betrachtung« ansetzte. Auch die in Westermanns Monatsheften erschienene Studie von Max Dessoir muss ihn geärgert haben. In dem erbitterten Wettlauf um die wenigen freien Stellen, die an der Friedrich-Wilhelms-Universität zu vergeben waren, hatte der Privatdozent Dessoir soeben geschafft, was der Privatdozent Simmel seit Jahren vergeblich anstrebte: ein Extraordinariat. Allein an der philosophischen Fakultät gebe es 86 Privatdozenten,
klagte Simmel in einem

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